Kapitel 9

7.9K 668 46
                                    

„Da ist sie!", rief jemand und ehe ich mich versah, hatten sich gleich mehrere Personen auf mich geworfen. Mit allen Kräften versuchte ich mich zu befreien, doch da ich nicht wirklich eine Ahnung von dem hatte, was ich konnte, erwies sich dies als ziemlich schwierig. Ich war zwar nun stärker als vorher und auch meine Sinne waren weitaus besser, aber wirklich helfen tat es mir nicht. Ich schrie, trat, schlug, kratzte und biss. Einige der Wissenschaftler und Ärzte konnte ich ein wenig verletzen, aber viel brachte es mir nicht wirklich, da sie einfach in der Überzahl waren.

Die Verzweiflung, von der ich geglaubt hatte, sie hätte mich bereits verlassen, kehrte mich aller Macht zurück, riss mich nieder, ließ mich weinen. Sie sollten mich alle in Ruhe lassen! Ich wollte nicht hier sein!

So kam es, dass ich am Ende völlig entkräftet am Boden lag, während mir einige der Menschen die Arme auf den Rücken pressten. Trotzdem kam ich mir irgendwie gelenkiger als sonst vor. So weh tat es also gar nicht. Dorothea schritt mit einem zufriedenen Lächeln auf uns zu, natürlich wieder mit dem Klemmbrett in den Händen.

„Freya, Freya." Sie grinste. „Ich hatte gedacht, du seist tot. Das haben wir alle gedacht. Doch nun? Sieh dich an. Ein Meisterwerk." Ihr Grinsen verschwand schlagartig und sie betrachtete mich mit etwas, das Enttäuschung ähnelte. „Allerdings nicht gerade willig. Also defekt."

Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Defekt? Hieß das, sie würden mich töten? Nein, nicht! Wie auch schon die Verzweiflung zuvor, kroch die Panik aus ihrem Loch und zog mich wieder an sich. Ließ mich nicht los. Schwach versuchte ich, die Wissenschaftler von mir zu schütteln, doch ich konnte nicht. War wieder das Kind, hilflos und klein.

„Aber es wäre schade, so ein Meisterwerk aufzugeben, ohne es auch wirklich versucht zu haben, findest du nicht auch?" Ein hinterhältiges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Ich ahnte Schlimmes. Erneut malte sich meine Fantasie lebhaft Albträume aus, in denen stetig weiße Kittel, Nadeln und gruselige Flüssigkeiten sowie Zahnarztstühle mit Fesseln eine Rolle spielten. Vor Furcht konnte ich mich kaum rühren.

Ich nahm kaum wahr, wie einer der Wissenschaftler mir eine Spritze in den Arm rammte. Ich bemerkte es auch bloß, weil mir plötzlich ganz schwindelig wurde und weil ich mich immer benommener fühlte. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Jemand hob mich hoch und trug mich durch die Gänge. Mein Bewusstsein verlor ich dieses Mal nicht, aber ich spürte ganz klar die Benommenheit. Ich konnte mich nicht wehren. Dazu war ich durch die Spritze nicht mehr in der Lage. Wo würden sie mich hinbringen? Meine Augen hatten Schwierigkeiten unserem Weg zu folgen. In einem Moment befand ich mich an einer Tür und sobald ich blinzelte mitten im Gang. Die Aussetzer blieben.

Sie schleiften mich durch die Gänge, an Liams Raum vorbei, in irgendein Zimmer, das ich nicht kannte. Es wirkte wie ein Büro. Allerdings gab es hier noch eine schwere Tür aus Beton, die eine dunkle Treppe hinabführte. Und genau dort schleppte man mich nun runter. In den Keller. Über mir erhellte das kalte Licht der Neonröhren die Gänge aus nacktem kaltem Beton. Schwach protestierten meine Gedanken. Doch auch sie waren träge.

Jede dieser Türen sah aus, wie die zuvor. Keine Nummern, keine Schilder, kein Nichts. Bloß die Stille. Dorothea schloss eine der Türen auf und die anderen folgten ihr. Wir befanden uns nun in einem großen Raum, mit vielen elektronischen Monitoren und Knöpfen. Außerdem sah ich wieder eine Röhre, die am Ende des Raumes an der Wand stand. Allerdings war dies nicht wie die Röhre, in der ich schon gelegen hatte, denn diese hier stand aufrecht. Zudem war sie mit noch mehr Kabeln und Maschinen verbunden, als die Röhre, in der ich vorher gewesen war.

Per Knopfdruck öffnete sich die Röhre und man stellte mich hinein. Kaum war ich drinnen, schloss sie sich wieder. Langsam verschwand der Nebel aus meinem Kopf, lichtete sich langsam. Sofort stemmte ich meine Hand verzweifelt gegen die Scheibe der Röhre und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass sie viel robuster war, als die, in der ich bereits gewesen war. Ich würde hier also nicht so schnell wieder herauskommen. Wollten sie mich nun hier einsperren? Bis ich ihnen gehorchte? Weswegen nannten sie mich defekt? Tränen traten in meine Augen. Weswegen sperrten sie mich hier ein und nicht wieder in meiner alten Röhre? Wollten sie etwa an mir forschen? War ich nun ihr Forschungsobjekt? Bitte, bitte, nicht.

Dorothea stand nun genau auf der anderen Seite der Scheibe und lächelte. „Es ist zu deinem eigenen Besten. Du bist zu gefährlich, Freya. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Du wirst das Tageslicht nie wieder zu Gesicht bekommen." Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand. Die anderen folgten ihr, doch vorher knipste noch einer das Licht aus. Nun stand ich hier in der Dunkelheit. Alleine. Alleine mit mir selbst. Ich würde nie wieder hier raus kommen. Ich würde nie wieder meine Familie sehen, James oder Liam. Aber auch wenn ich hier heraus kommen sollte, ich würde nicht wollen, dass meine Familie mich so sah. Ich war zu einem Monster geworden. Und nun verstand ich auch, wieso Liam das von sich selbst behauptet hatte. Dass er ein Monster sei. Ich konnte ihn nun sehr gut verstehen. Wieder kamen mir diese Nachrichten in den Sinn, die sich mein Vater angeschaut hatte, von den Wissenschaftlern und der Idee zur Weltverbesserung, zur Menschheitsverbesserung. Doch sie taten hier nichts zur Weltverbesserung. Sie erschufen Monster.

Frustriert lehnte ich meine Stirn an die kalte Scheibe. Ich schloss meine Augen und atmete ruhig ein und aus. Schon früh fällte ich eine Entscheidung. Eine Entscheidung, die sich in den folgenden Jahren nur weiter in mir festigen würde: Egal wie lange ich hier drin bleiben würde. Auch wenn es bis zu dem Ende meines Lebens sein würde, bis ich alt und grau sein würde, eines konnten sie mir nicht nehmen. Sie konnte mir meine Freiheit nehmen, sie konnten mir mein altes Selbst nehmen, meine Familie, meine Identität, aber meinen Willen würden sie mir nicht nehmen. Das würde ich nicht zulassen. Egal, was sie mir antaten, denn das Schlimmste hatten sie mir bereits angetan. Und ich würde nicht aufgeben. Ich würde kämpfen. Auf die eine oder die andere Art. Mich würden sie nicht brechen. Ich würde mich ihnen nicht unterwerfen. Sie meinten, ich wäre gefährlich. Sie sahen in mir eine Bedrohung. Sie haben Angst vor mir. Sonst hätten sie mich hier nicht weggesperrt. Ich konnte ihnen gefährlich werden. Ich konnte sie verletzen. Ich konnte siegen.

Ich merkte, wie ich mich entspannte. Ich wollte hier raus. Bis dahin würde alles durchgeplant sein. Schließlich hatte ich genug Zeit. Ich würde geduldig sein. Sie in dem Glauben lassen, dass ich nichts tun würde. Einfach meine Zeit hier absitzen, bis sie um war. Als hätte ich das Leben aufgegeben. Sozusagen hatte ich das auch. Mein altes, normales Leben. Es würde niemals mehr wieder so sein, wie es einst gewesen war. Das war vorbei. Ich vermisste Lucius und ich vermisste meine Eltern. Ja, sogar Mom. Gerade als ich langsam wieder begann, mich mit ihr zu verstehen, musste alles anders werden. Konnte es nicht einmal so ablaufen, wie ich es wollte?

Ich öffnete wieder meine Augen. Nur das Licht der Maschinen erhellte den düsteren Kellerraum. Die Kälte machte mir nichts aus. Ich konnte in der Scheibe vor mir mein Spiegelbild sehen. Es fühlte sich noch immer so an, als würde ich eine Fremde sehen, wenn ich es erblickte. Ich würde mich auch wahrscheinlich nie daran gewöhnen. Ich würde für mich immer die Fremde im Spiegel bleiben. Es war, als wäre ich nun jemand anderes. Ohne Familie, ohne Zukunft, ein fremdes Aussehen und neue, unmenschliche Fähigkeiten. Meine Familie sollte mich so niemals zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich würden sie mich nicht einmal mehr wirklich erkennen. Liam hatte mich ja schließlich auch kaum wiedererkannt. Und wer konnte mir schon sagen, wie viele Jahre vergehen würden, bis ich je wieder frei sein würde, wenn ich überhaupt wieder frei kommen würde? Bis dahin würde ich mich ja auch verändern.

Ich spürte die Kälte, die mir wie Blut durch meine Adern floss. Die Kälte, die meinen gesamten Körper füllte und umhüllte. Diese Macht, die mich durchfloss, diese ungewohnte Macht. Ich musste aufpassen. Die Wissenschaftler sollten nicht alles wissen, zu dem ich im Stande sein würde. Denn sonst wüssten sie, was auf sich zukommen würde. Aber wie sollte ich sonst meine Fähigkeiten entdecken? Die Guten, wie auch die Schlechten. Würden sie mich ändern? Zum Guten oder zum Bösen. Denn Macht veränderte Menschen. Doch zählte ich noch zu den Menschen? Ich betrachtete mein Spiegelbild in der Röhre. Diese schneeweiße Haut, dieses silberweiße Haar, diese eisblauen Augen. Kurz meinte ich weiße Schlangenschuppen auf meiner linken Gesichtshälfte entdecken zu können. Doch genauso schnell wie sie aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden. Nein. Ich war kein Mensch mehr. So konnte man etwas wie mich nicht mehr bezeichnen. Sie hatten das, was mich erst zu einem Menschen machte, in mir bereits verändert und abnormal abgeändert. Sie hatten mich von einem Menschen zu etwas gemacht, was nicht existieren sollte. Ein Monster. Ein Mutant. Ich war bloß eine Mutation. Und das würde sich nie wieder ändern. Es war geschehen und man konnte es nicht mehr rückgängig machen.

Das Kind in mir war tot.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now