Kapitel 88

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„Was machst du hier draußen?", wollte ich skeptisch von Varya wissen. Sie klappte ihre Zeitung zusammen und lächelte verlegen.

„Na ja, ich wollte nicht stören. Deshalb bin ich in den Flur gegangen.", meinte sie. „Was Lucius gerade bespricht, geht mich nichts an. Vorhin ist Samuels Cousine gekommen und Lucius schien dringend mit ihr reden zu wollen." Zögerlich zuckte Varya mit ihren Schultern. Enya war hier? So langsam ging mir ein Licht auf. Lucius war genauso gespannt auf Samuels menschliche Cousine wie ich. Nur dass er im Gegensatz zu mir bestimmt viele Fragen an sie hatte, da sie sich beide mal in der gleichen Situation befunden hatten. Nur waren beide ziemlich unterschiedlich damit umgegangen.

„Deshalb liest du im Flur?", harkte ich stirnrunzelnd nach. „Weshalb bist du nicht zu den anderen in den Keller gegangen oder in eines der Zimmer oben? Ich glaube nicht, dass es hier eine feste Zimmerverteilung gibt." Varya zuckte nur mit ihren Schultern.  Ihre Zeitung knisterte leise.

„Ich komme mir so schon wie ein Eindringling vor. Dann muss ich mich nicht auch noch wie einer verhalten.", meinte sie. Irritiert betrachtete ich sie. Tatsächlich wirkte sie ein wenig so, als würde sie sich unwohl fühlen.

„Du bist doch kein Eindringling.", sagte ich. „Außerdem ist das hier, soweit ich das verstanden habe, so was wie eine Mutantenauffangstation. Du hast jedes Recht hier zu sein." Wenn ich nur daran dachte, wie es für uns werden würde, wenn es mehrere solcher Häuser wie dieses hier gäbe ... Allerdings würden die Behörden wohl dagegen vorgehen, wenn es mehrere solcher Häuser gäbe. Und dann wäre wieder alles so wie immer.

Erneut zuckte Varya mit ihren Schultern. „Vielleicht. Aber ich komme mir nicht wie ein richtiger Mutant vor. Nicht so wie ihr, zumindest." Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ihr wurdet von Ambrosia erschaffen. Ich von Clausen. Ich war seine Assistentin. Und mein Vater ist ein Politiker, der gegen Mutanten vorgeht."

Langsam ging mir ein Licht auf. Kam sie sich etwa deshalb so vor, als würde sie nicht hierher gehören? „Es ist vollkommen egal, wie du zum Mutant wurdest. Es ist vollkommen egal, dass du Clausens Assistentin warst. Er hatte dich in seiner Hand. Und ich bin mir sicher, dass du nicht die einzige Mutantin bist, die einen Politiker zum Vater hat.", sagte ich. Varya lächelte leicht. Aber es war ein trauriges Lächeln. Hoffnungslos zuckte sie mit ihren Schultern. Erneut knisterte das Papier der Zeitung. Ihre Finger hatten sich in die Seiten gekrallt. „Weißt du, ich weiß gar nicht mehr, was ich mit mir anfangen will. Vor sehr kurzer Zeit wurde mir noch alles vorgegeben und ich hatte nicht selbst nachdenken müssen. Geschweige denn, dass ich das gekonnt hätte." Sie wirkte irgendwie verloren. „Mir wurde das Angebot gemacht, hierzubleiben und zu helfen. Aber dir schulde ich, dass du mich befreit hast. Ich würde mir schlecht vorkommen, wenn ich dich und Lucius einfach alleine weiterziehen lasse. Ihr könntet mich brauchen."

Leicht lächelnd schüttelte ich meinen Kopf. „Du bist mir gar nichts schuldig, Varya. So wie ich dir geholfen habe, hast du auch mir geholfen. Ohne dich würde ich immer noch in der Zelle von Clausen sitzen. Bis ans Ende meines Lebens würde ich ein Versuchsobjekt sein.", sagte ich. „Und ich habe dir nicht ganz uneigennützig geholfen." Das war der weniger schöne Part des Ganzen. Eigentlich ekelte es mich an, andere Personen für meine Zwecke zu benutzen. Ambrosia hat damals nichts anderes getan. Sie hatten kleine Kinder benutzt und an ihnen experimentiert, um zu sehen, ob es sie irgendwie weiterbrachte. Und ich wusste nicht ob meine Situation es rechtfertigte, dass ich Varya benutzt hatte. Sie schuldete mir nichts. Wir waren quitt.

„Vielleicht.", gab Varya zu. „Vielleicht hast du mich benutzt. Dennoch ändert das nichts daran, dass du mir meine Kontrolle zurückgegeben hast." Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Leise Stimmen waren aus dem Wohnzimmer zu hören. Doch das, was dort gesprochen wurde, hatte mich nicht zu interessieren. Es ging mich nichts an. Das war eine Sache zwischen Lucius und Enya.

„Du musst dich nicht nach Lucius und mir richten.", fuhr ich fort. „Wenn du nicht mit uns mitkommen möchtest, ist das vollkommen okay. Ich werde dich zu nichts zwingen. Wenn du lieber hier bleiben möchtest, ist das in Ordnung. Und wenn du lieber etwas ganz Anderes machen möchtest, ist das auch gut. Aber tu nichts, nur weil du dich dazu verpflichtet fühlst." Nachdenklich nickte Varya. Ohne großartig darüber nachzudenken, knetete sie die Seiten ihrer Zeitung. Vielleicht waren ihr das zu viele Möglichkeiten, die ihr nun offen standen. Ich wusste nicht, wie es war, wenn es einem verwehrt worden war, selbstständig zu denken. Varya war nicht nur daran gewöhnt, Befehlen zu folgen, sie hinterfragte sie nicht. Lange Zeit war sie kaum mehr als eine Maschine gewesen. Es musste sie überfordern, nun endlich wieder die Kontrolle über sich selbst zu haben.

„Lass dir ruhig Zeit.", sagte ich. „Niemand erwartet von dir, dass du dich sofort entscheidest." Die Stimmen auf der anderen Seite der Tür waren verstummt. Vermutlich würde es jetzt niemanden mehr stören, wenn ich das Wohnzimmer betrat. Und Lucius würde sich nicht von mir ertappt fühlen. Außerdem war ich gespannt auf Enya.

Varya nickte kurz und schaute auf ihre Zeitung. „Weißt du, ich erinnere mich nur vage an alles, was ich getan habe, seit Doktor Clausen mir meinen Willen genommen hat. Aber aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an vieles, was ich in der Zeitung gelesen habe.", sagte sie.„Nicht, dass es irgendetwas in mir ausgelöst hätte. Es war noch nicht einmal ein Zeitvertreib. Ich habe einfach nur gelesen." Sie atmete einmal tief ein, während sie ihren Blick nicht von den Seiten nahm. „Aber jetzt, jetzt kann ich über das nachdenken, was ich lese und gelesen habe." Gequält sah sie wieder zu mir hoch. „Ich weiß nicht ... Irgendwie hoffe ich, irgendetwas von Doktor Clausens Labor zu lesen. Mich würde interessieren, was die Leute davon denken, wenn sie erfahren, was er dort unten getrieben hat. Und irgendwie hoffe ich, dass ... es meinen Vater dazu animiert, etwas gegen all diesen Unsinn zu unternehmen." Ihre Worte berührten mich und ließen mich an meine eigenen Eltern denken. Genau wie ich hoffte sie, dass ihre Familie nicht so war wie der Rest der Menschen. Dass sie das nicht in Ordnung fand, wie man mit den Mutanten umging. Und anders als meine Eltern hatte ihr Vater Einfluss. Wenn er es nur wollte, könnte er die Regierung von innen verändern. Sie zu einem Umdenken bewegen. Im Gegensatz zu mir hatte sie Hoffnung. So klein sie auch sein mochte.

Es musste schmerzhaft für sie sein, so von ihrem Vater verstoßen worden zu sein und ihn nach all der Zeit wiederzusehen. Natürlich begann man dann zu hoffen und sich Fragen zu stellen. Ob sich etwas geändert hatte.

Ich hatte die Reaktion ihres Vaters gesehen, als er sie wiedersah. Er hatte gehofft, dass sie wieder menschlich war. Nach wie vor war sie seine Tochter und er wollte wahrscheinlich nichts lieber, als sie zurückzuhaben. Varya mochte zwar nicht mehr offensichtlich wie ein Mutant aussehen, dennoch war sie einer. Jedoch konnte ich nicht sagen, wie ihr Vater darüber dachte. Er war einfach nur wie erstarrt gewesen. Vielleicht gab es Hoffnung. Zumindest für Varya.

„Ich weiß, dass es lächerlich klingt, nachdem, was mein Vater getan hat.", murmelte Varya, doch mit einer einfachen Handbewegung brachte ich sie zum Schweigen.

„Sag das nicht. Es ist viel lächerlicher von mir, meinen Bruder nicht einfach ins Nirgendwo zu schicken.", erwiderte ich seufzend. „Er hat nicht nur Jagd auf Mutanten gemacht, er war auch ziemlich grässlich zu mir. Und als ich glaubte, dass es sich bessern würde, hat er mich verraten und gegen meinen Willen weiteren Experimenten ausgeliefert. Eigentlich ist es ziemlich unklug von mir, ihn weiterhin in meiner Nähe zu haben. Es ist nichts Verwerfliches, zu hoffen, Varya. Und wer weiß. Vielleicht ist es nicht vergebens."

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now