Kapitel 6

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Noch heute waren die Erinnerungen allzu präsent. Als wäre das alles erst gestern passiert. Und ich glaubte auch kaum, dass sie jemals verblassen würden. Seit jenem Tag waren sie ein Teil von mir. Hatten mich geprägt. Kein Kind hätte jemals erleben sollen, was ich erlebt hatte.

Das erste was zurückkehrte war mein Gehör. Verzerrte Stimme. Ich hörte Stimmen. Weit entfernte Stimmen, die so klangen, als befände ich mich unter Wasser. Alles war schwarz. Die Dunkelheit hatte mich fest umschlossen. Irgendetwas war anders. Ich fühlte mich anders. Inwiefern konnte ich nicht sagen. Und ich war verwirrt. In meinem Kopf war bloß Schwärze. Allertiefste Schwärze.

Kurz darauf jedoch konnte ich zumindest feststellen, dass ich irgendwo lag. Dennoch fühlte es sich an, als würde ich schaukeln. Hin und her. Und her und hin. Auf eine seltsame Art war es entspannend. Bis auf die weit entfernten Stimmen war es ruhig. Was war passiert? Vage meinte ich mich zu erinnern, dass irgendetwas geschehen war. Nur, was?

Erstaunt fiel mir ein, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte. In mir war nichts als gähnende Leere. Wer war ich überhaupt? Ein Name schwebte heimatlos in meinem leeren Kopf umher. Lucius. Den kannte ich. Aber das war nicht ich. Das war mein Zwilling. Ich hatte einen Zwilling!

Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern. Wie hieß ich? Ein weiterer Name tanzte in meinem Hinterkopf. Ich griff nach ihm, konnte ihn aber nicht greifen. So sehr ich es auch versuchte. Immer, wenn ich ihn fast hatte, entglitt er mir. Entwand sich meinen Fingern wie ein Aal. Es war, als würde ich versuchen Rauch zu fangen. Immer verzweifelter versuchte ich, den Namen zu greifen.

Wer war ich? Wo kam ich her? Wo war ich jetzt? Wieso war ich hier?

Ich stockte. Ich wusste, dass ich nicht zu Hause war. Okay, aber wo war ich dann? Die Angst legte ihre eiskalten Finger um mein Herz. Panisch ging mein Atem. Was war geschehen? Wieso war ich nicht zu Hause? Ich sollte nicht hier sein. Aber wo war „hier"?

Namen und Gesichter spukten vor meinem inneren Auge. Mikéle. Dunkle Augen, ernstes Gesicht. Jo. Ein Lächeln wie eine böse Königin. Wieder spukte mir ein Gesicht in meinem Kopf umher. Klare, blaue Augen. Der passende Name war auch sofort parat. James. Der beste Freund meines Bruders und mir.

So langsam füllten sich die Lücken in meinem Kopf wieder. Die Erinnerungen fügten sich zusammen wie die verloren gegangenen Teile eines Puzzles. Und alle zusammen ergaben sie ein Bild: Mein Leben. Meine Identität. Meine Vergangenheit.

Mein Name war Freya Winter. Meine Lehrerin hatte mir eine Flüssigkeit gespritzt. Sie hatte mich entführt. Wut keimte in mir auf, wie ein gefährlicher Krankheitserreger. Ich wollte meine Augen öffnen. Ich musste sie öffnen.

Die ganze Zeit über war mir meine Lehrerin unheimlich vorgekommen. Ich hatte geahnt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Nicht stimmen konnte!

Sobald ich meine Augen auch nur ein Stück geöffnet hatte, schien mich helles, weißes Licht zu überfluten. Hastig schloss ich meine Augen wieder und ballte meine Hände zu Fäusten. Nein! Ich würde doch jetzt nicht aufgeben! Wieder zwang ich mich dazu, meine Augen zu öffnen. Die Angst trieb mich an. Tief in mir keimte die Hoffnung auf, dass das alles nur ein böser Traum gewesen war. Dass ich zu Hause in meinem Bett lag und gleich erkennen konnte, dass alles gut war. Also zwang ich mich, meine Augen zu öffnen. Und egal wie sehr mir das helle Licht in den Augen brannte, ich ließ sie offen.

Wie ein Blitz schoss mir das Entsetzen durch den Körper. Das Zittern setzte ganz von allein ein und ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Ich gab ein ersticktes Krächzen von mir. Über mir war Glas. Über mir, neben mir, rechts und links. Ich schien mich in einer Art Röhre zu befinden. Eine durchsichtige Röhre, die nur mit mir und einem Kissen gefüllt war. Der Boden, auf dem ich lag, beanspruchte etwa die halbe Höhe der Röhre, sodass meine Nasenspitze beinahe das Glas berührte.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt