Kapitel 95

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Dennoch nahm er ohne zu murren die Ausfahrt nach Taunton. Im Gegensatz zu London war Taunton wirklich winzig. Die Straßen waren umgeben von Grün. Hier und da blitzten immer wieder alte Gebäude auf und wir alle hielten die Augen offen, um nach einem Laden Ausschau zu halten, der womöglich Briefumschläge verkaufte. Nach einigem Herumgekurve fanden wir auch einen. Wie abgesprochen stieg Michelle aus dem Wagen, während Harlan etwas abseits parkte, damit nicht zufällig irgendein Passant zu uns hineinschaute und eventuell Lucius oder mich erkannte.

Es waren nicht einmal zehn Minuten vergangen, da kam Michelle auch wieder. In ihren Händen hielt sie einen dicken Packen Umschläge, einigen Briefmarken und einen neuen Stift. Lächelnd öffnete sie die Tür und stieg wieder zu uns ins Auto.

„So.", sagte sie. „Dann wollen wir mal Adressen raus suchen!" Mich verblüffte, wie enthusiastisch sie war. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann hielt sie diese Aktion womöglich für einen wunderbaren Schritt, der dazu beitrug, unser Leben zu verbessern. Ich war mir sicher, dass sie sich bestimmt fantastisch mit Enya verstehen würde.

Die nächste halbe Stunde verbrachten wir damit, verschiedene Adressen aus verschiedenen Teilen des Landes herauszusuchen und dementsprechend die Umschläge zu beschriften. Anschließend schoben wir die Flugblätter dann in die Umschläge, klebten die Briefmarken darauf und Michelle lief mit dem Haufen aus Papier zum nächstgelegenen Briefkasten.

Und ehe wir uns versahen, befanden wir uns auch schon wieder auf der Autobahn. Harlan drückte noch mehr auf das Gaspedal als zuvor, da er die Zeit, die wir in Taunton verloren hatten, wieder wett machen wollte. Zumal ich glaubte, dass ihm die beunruhigende Begegnung mit den Elitesoldaten. Sie wollten mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Die Erinnerung war noch viel zu präsent und hielt sich hartnäckig in meinem Bewusstsein fest.

Außerdem war auch die Bedrohung durch sie nach wie vor vorhanden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die ersten dieser Mutanten befreien konnten. Und wenn es soweit war, würden sie die Verfolgung aufnehmen. Wie lange würden wir in Morvah wohl vor ihnen sicher sein? Würden sie überhaupt unsere Spur verlieren? Wenn sich Audra und die anderen wirklich in Morvah aufhielten, wollte ich sie unmöglich der Gefahr aussetzen, die von den mutierten Elitejägern ausging. Allerdings konnte es natürlich auch sein, dass man uns nicht mehr finden würde. Von der Raststätte aus hätten wir sonstwohin fahren können.

Laut unserer Navigation bräuchten wir nur noch knapp zwei Stunden bis nach Morvah. Doch Harlan fuhr so, als würde er diese angekündigte Zeit auf jeden Fall unterbieten wollen. Sogar als die kleine Sophia wieder wach wurde und quengelte, dass sie eine Pause machen wollte, raste Harlan konsequent weiter. Selbst dann noch, als auch Felix in das Gequengel seiner Schwester mit einstimmte. „Wir machen eine Pause, sobald wir da sind.", sagte Harlan, wobei er seine beiden Kinder durch den Rückspiegel beobachtete. „Versprochen." Tatsächlich gaben die beiden dann nach einer Weile Ruhe.

„Wenn das doch nur immer so leicht wäre ...", hörte ich Michelle leise murmeln. Rasend schnell flog die Autobahn unter uns hinweg. Die anderen Fahrzeuge ließen wir schnell hinter uns zurück. Harlan drückte das Gaspedal durch. Er hatte wirklich Glück, dass wir noch keinem Blitzer begegnet waren. Aber da das Auto weder auf uns, noch auf ihn registriert war, würde keiner von uns davon etwas zu spüren bekommen. Vermutlich. Dennoch wäre Bill dann wahrscheinlich nicht sehr erfreut.

Irgendwann nahm ich gar nicht mehr so wirklich wahr, was um mich herum geschah. Mittlerweile waren wir alle wohl nur noch gelangweilt und die Gefahr, die von den Elitesoldaten ausging, rückte in weite Ferne. Mit jedem Kilometer, den wir zwischen uns brachten, flachten die Sorgen ab. Müde blickte ich aus dem Fenster. Doch wirklich etwas sehen tat ich nicht. In Gedanken war ich bereits in Morvah, einem stillen Fleckchen Erde, das kaum mehr als fünfzig Einwohner beherbergte und sich trotzdem ein Dorf nannte.

Selbst dort gewesen war ich nie. Aber Aldric hatte Liam und mir oft genug davon erzählt. Morvah selbst glich laut Aldric von der Größe her mehr einem einzigen großen Bauernhof, als einem Dorf. Die Gebäude waren relativ alt und aus grauem Stein. Der gesamte Ort war ziemlich ländlich gelegen und in der Nähe sollte es wohl ein paar interessante Steinformationen geben. Etwas außerhalb des Dorfes sollte das Ferienhaus von Aldrics verstorbener Großtante stehen. Ziemlich nahe an den Klippen. Weit und breit nichts außer der tobenden See, deren Wellen gegen die steinernen Klippen krachten, grünem Gras und bunten Feldern.

Ich konnte es kaum erwarten, endlich dort zu sein. Ich vermisste Audra und Liam. Dennoch wusste ich nach wie vor nicht, wie ich ihnen mein nun permanentes Schlangen-Äußeres erklären sollte. An dem auch noch Lucius eine große Teilschuld hatte. Aber würde ich davon erzählen, konnte ich mir nicht sicher sein, dass Lucius weiterhin unversehrt oder gar am Leben blieb. Liam konnte manchmal ziemlich impulsiv sein und dachte erst im Nachhinein nach. Und Kieran konnte ich was das anging, überhaupt nicht einschätzen. Dafür kannten wir uns nicht lange genug. Und ob es ihn überhaupt interessierte, war eine ganz andere Frage.

Irgendwann verließen wir schließlich die Autobahn und bewegten uns über verschiedene Landstraßen. Die Gegend wurde deutlich ländlicher und wir kamen an immer weniger Städten und Dörfern vorbei. Es konnte also nicht mehr allzu weit sein. Mittlerweile war der Tag dem Abend gewichen und die Sonne hing tief am Himmel. Dieser war beinahe wolkenlos und die Sonne tauchte die Erde in goldenes Licht.

Harlans und Michelles Kinder waren mittlerweile so müde, dass sie zwar noch wach waren, aber kein Wort mehr von sich gaben. Auch Lucius schwieg. Mit ernstem Blick schaute er starr auf die Straße vor ihm. Aber auch sonst sprach niemand ein Wort. Ich wollte nur noch ankommen. Und den anderen ging es wahrscheinlich genauso.

„Wir sind da.", sagte Harlan schließlich. Kaum hatte er das gesagt, war ich wieder hell wach. Aufmerksam blickte ich aus dem Fenster. Genau wie Aldric gesagt hatte, war Morvah erstaunlich klein. Es gab eine einzelne Straße, die durch das Dorf führte, das wirklich kaum mehr Fläche umfasste, als ein größerer Bauernhof. Die Straße beschrieb einen Halbkreis und schon hatten wir Morvah auch schon hinter uns gelassen. „Wo müssen wir hin?", wollte Harlan wissen, der das Tempo drosselte und nach einer Gelegenheit suchte, den Wagen abzustellen, ohne für zu viel Aufsehen innerhalb des Dorfes zu sorgen.

„Irgendwo nord-westlich von Morvah müsste das Ferienhaus stehen.", meinte ich nachdenklich. Aber wo genau, konnte ich leider auch nicht sagen. Ich war noch nie zuvor hier gewesen. Doch Harlan wirkte von meiner vagen Antwort nicht genervt, sondern nickte nur.

„Okay.", sagte er und startete den Wagen wieder. „Dann fahre ich jetzt erst einmal Richtung Küste." Das jedoch sollte sich als etwas schwieriger erweisen, als bisher angenommen, denn es gab keine Straße, die zum Meer führte. Das Einzige, was dem nahe kam, waren Feldwege. Nachdem wir weitere fünf Minuten gefahren waren, hielt Harlan den Wagen an. „Das hat keinen Sinn.", sagte er. „Wir sollten zu Fuß weitergehen. Ein einsamer Wagen mitten auf einem Feldweg zieht zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Wir müssen ihn irgendwo verstecken." Sofort stimmte Lucius ihm zu. Mein Bruder wirkte erschreckend ernst.

„Aber wo sollen wir das Auto verstecken?", wollte Michelle wissen, während sie sich suchend umschaute. Ihre Stirn kräuselte sich leicht. „Hier ist nichts. Rein gar nichts." Jetzt standen wir vor einem Problem. Was sollten wir mit dem Auto machen? Wir konnten es nirgendwo verstecken. Und es einfach in Morvah abzustellen war keine Option. Dafür war Morvah zu klein. Ein fremder Wagen würde sofort auffallen.

„Können wir denn nicht mit dem Auto zu diesem Ferienhaus fahren?", fragte Michelle, doch Harlan schüttelte den Kopf.

„Siehst du das da vorne? Da hört der Feldweg auf. Keine Straßen, keine Wege. Nichts.", sagte er. Er klang konzentriert. Hinter seiner Stirn konnte ich es förmlich rattern hören. Suchend blickte er sich um. Doch wohin er auch schaute – nichts. Kein einziges geeignetes Versteck. Hier gab es keine Bäume. Zwar durchbrachen kleinere Hügel die ebene Landschaft, doch auch ein solcher eignete sich nicht, um ein Auto dahinter zu verstecken.

„So wie es aussieht, werden wir wohl oder übel mit dem Auto quer über das Feld fahren müssen und es dann hinter dem Haus abstellen.", beschloss Harlan, auch wenn er nicht so wirkte, als sei er mit dieser Idee zufrieden. Schließlich würden wir somit Spuren im Feld hinterlassen, die sich ganz leicht zu dem Ferienhaus verfolgen ließen. Doch da niemand etwas erwiderte und etwas anderes vorschlug, schien das wohl unser Plan zu sein. 

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt