Kapitel 94

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Dieser umkreiste zusammen mit dem Grauhaarigen den Fledermausmutanten. Der hatte einen seiner Flügel um die Mutter und die beiden Kinder gelegt, sodass alle drei an ihn gepresst und von uns abgeschirmt wurden.

„Hast du sie getötet?", fragte mein Bruder mich, ohne die Augen von dem geflügelten Mutanten zu lassen.

„Nein.", antwortete ich, woraufhin Lucius' Blick sich sofort auf mich legte.

„Was?", rief er fassungslos aus. „Du hast sie am Leben gelassen? Wieso?" Er sah mich so an, als könnte er es nicht glauben. Verständnislos schüttelte er seinen Kopf. Ja, wieso? Damals hatte ich kein Problem damit gehabt, die Wissenschaftler einzufrieren. Oder mit meinen Eiszacken aufzuspießen. Auch Doktor Claussen hatte ich in seinem eigenen Labor eingesperrt, während es sich in eine Tiefkühltruhe verwandelt hatte. Wieso also hatte ich diese Mutanten nicht einfach getötet und somit verhindert, dass sie überhaupt dazu in der Lage waren, Ausbruchsversuche zu starten?

„Egal. Konzentrieren wir uns jetzt hier drauf.", sagte Lucius. Zu dritt umkreisten wir den Mutanten. Keiner wagte, ihn anzugreifen. Immerhin könnten wir sonst die Frau und die Kinder verletzen. Ohne, dass der Mutant es bemerkte, begann eine zarte Eisschicht seine Füße zu überziehen. Und nicht nur seine Füße. Auch den Boden unter ihnen. Ehe er sich versah, war er nicht mehr dazu in der Lage, seine Füße zu heben, oder gar zu bewegen. Zumal das Eis schnell dicker wurde, sodass er sich nicht einfach losreißen konnte. Gelassen bewegten  sich seine kleinen schwarzen Augen auf mich zu.

Gerne hätte ich ihn gefragt, was ihn dazu gebracht hatte, andere Mutanten zu jagen. Doch ich hielt mich zurück. Vermutlich würde ich sowieso keine Antwort erhalten. Und ob ein Gefühlloser ohnehin eine Antwort darauf parat hatte, wusste ich nicht. Vielleicht tat er es einfach,  ohne überhaupt einen Grund zu brauchen.

„Kannst du noch ein bisschen mehr von seinem Körper einfrieren? Er darf seine Arme und seinen Kopf nicht bewegen.", bat mich Lucius. Ihm war anzusehen, dass er einen Plan hatte. Allerdings gefiel mir der Ausdruck in seinen Augen ganz und gar nicht. Irgendetwas daran beunruhigte mich. Dennoch erfüllte ich seine Bitte.

Sein freier Flügel überzog sich blitzschnell mit Eis und verband sich mit dem Boden. Bei dem anderen war das etwas anders. Ganz einfrieren konnte ich ihn nicht. Immerhin könnte dies der Familie des Grauhaarigen schaden, die darunter gefangen war. Allerdings wollte ich auch nicht wagen, den Flügel freizulassen. Schließlich konnte er sich umentscheiden und die Frau und die beiden Kinder töten, anstatt sie nur festzuhalten. Also legte sich mein Eis nur über den langen, dünnen Arm, der mit den Flügeln verwachsen war. Wenn er diesen nicht mehr bewegen konnte, konnten seine Flügel das auch nicht. Zudem kam es mir ganz gelegen, dass die langen Finger auf seiner Schulter lagen, sodass ich sie dort sicherheitshalber festfror.

Es behagte mir nicht, dass der Fledermausmutant alles andere als panisch war. Es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, dass ich gerade dabei war, ihm seine Beweglichkeit zu nehmen. Andere hätten an seiner Stelle entsetzt geschrien. Verzweifelt gebettelt oder versucht sich zu wehren. Er dagegen stand einfach nur ruhig vor uns und bewegte sich nicht. Als ob er wüsste, dass es ohnehin nichts bringen und nur Energie kosten würde. Er hatte überhaupt keine Angst.

Sogar als mein Eis seine Schultern und schließlich sogar seinen Hals bedeckte, machte er keine Anstalten, etwas dagegen zu tun. Der Blick, mit dem er mich beobachtete, war einfach nur gleichgültig. Und das war weitaus unheimlicher als seine gewaltigen Flügel.

Ohne, dass ich es verhindern konnte, musste ich auf einmal an Kieran denken. Er selbst war einmal genauso gewesen. Ohne Gefühle. Selbst jetzt noch, obwohl er seine Gefühle wiedererlangt hatte, ließen ihn manche Grausamkeiten noch völlig kalt. Als ob er dem gegenüber vollkommen abgestumpft war. Wie damals, als unser Haus gebrannt hatte und er den Uniformierten – als sei es selbstverständlich - die Kehle aufgerissen hatte.

Dennoch waren mir Gefühllose, bei Kierans Erzählung, mehr wie Bestien vorgekommen. Jedoch wirkten diese Elitesoldaten nicht wie Bestien. Nein. Sie waren berechnend und handelten nach Logik.

Nun konnte der Mutant auch seinen Kopf nicht mehr bewegen. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, mich weiterhin gelassen anzusehen. Irgendwie kam ich mir nicht so vor, als hätten wir es geschafft. Tatsächlich verhielt auch der Mutant sich so, als würde er nicht in der Klemme stecken. Und das beunruhigte mich. Gab es vielleicht noch einen siebten Mutanten, den ich übersehen hatte? Oder hatten die anderen sich befreit? Prüfend warf ich einen kurzen Blick auf das eisige Gefängnis. Aber dies erfüllte nach wie vor seinen Zweck.

Bedächtig zog Lucius ein Messer hervor. Alarmiert zogen sich meine Augenbrauen zusammen. „Was hast du vor?", fragte ich.

„Na was wohl?", meinte mein Bruder. Seine Stimme klang ernst. Er machte sich bereit, das Messer zu werfe. Dabei zielte er genau zwischen die Augen des Mutanten. Dieser beachtete meinen Zwilling nicht. Er beobachtete nur mich. Als hätte er alle Zeit der Welt.

„Tu es nicht.", sagte ich und senkte mit meiner Hand seinen Arm. Erneut war da diese Verständnislosigkeit, mit der er mich betrachtete. Er machte keine Anstalten, das Messer wieder zurückzustecken.

„Es ist, weil er ein Mutant ist, nicht wahr?" Lucius klang nicht sehr begeistert. „Deshalb hast du auch die anderen nicht getötet, sondern nur eingesperrt. Muss ich dich daran erinnern, dass sie uns jagen werden, sobald sie freikommen?" Mir gefiel der Ausdruck in seinen Augen nicht. Er hatte etwas von damals, als Lucius noch mit Leib und Seele ein Jäger gewesen war. „Menschen zu töten macht dir nichts aus. Aber wenn du schon tötest, dann mach es auch konsequent und unterscheide dabei nicht zwischen Menschen und Mutanten!"

»Du hörst dich schon fast wie Kieran an.", bemerkte ich und das gefiel mir gar nicht. Lucius auch nicht. Aber das lag daran, dass ich ihn mit einem Mutanten verglich. Wann würde er endlich aufhören, sein Gesicht zu verziehen, wenn es um Mutanten ging? Ich hatte geglaubt, dass es besser geworden war. Bei Enya hatte Lucius gar nicht mehr wie ein Jäger gewirkt. Er hatte Samuel und auch die anderen so angeschaut, wie er auch Menschen ansah.

Verfiel er etwa wieder in alte Muster? Wie hatte ich glauben können, dass etwas, das bereits seit so vielen Jahren tief in ihm verankert war, sich innerhalb weniger Wochen verändern könnte? Verschwinden könnte?

Erneut kam mir wieder der Gedanke, der mir auch schon in Clausens Labor gekommen war. Eine kleine, leise Stimme wisperte in meinem Kopf. Stellte immer wieder die selbe Frage: „Wäre es nicht besser, sich von Lucius zu trennen, sobald wir die anderen gefunden hatten?" Eine Seite von mir glaubte, dass es vermutlich besser wäre, alleine mit Liam und Kieran weiterzuziehen. Die andere Seite allerdings wollte das nicht. Viele Jahre über hatte ich geglaubt, meine Familie nie wiederzusehen. Und jetzt war mein Zwilling hier. Dafür, dass er ein Jäger war, funktionierte das mit uns beiden ganz gut. Was hatte ich auch erwartet? Dass er innerhalb eines Wimpernschlages wieder der Lucius war, den ich vor neun Jahren gekannt hatte? Nein. Ich selbst hatte Lucius in Clausens Labor gesagt, dass Leute sich veränderten. Und alles andere nicht wünschenswert wäre. Zu gehen, nur weil mir nicht gefiel, wie er heute war, war nicht richtig.

Natürlich war es unverzeihlich, was Lucius getan hatte. Das ließ sich auch damit nicht entschuldigen, dass er nun einmal jetzt ein anderer war, als noch vor neun Jahren. Was also sollte ich tun?

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now