Kapitel 17

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Kapitel 17

Die Menschen wollten einfach nicht sehen, dass wir auch einmal Menschen wie sie gewesen waren. Das wurde mir immer und immer wieder deutlich gemacht. Dazu brauchte ich bloß die Nachrichten zu sehen. Sie wollten uns lieber als die Monster sehen, zu denen sie uns selbst gemacht hatten.

Manchen Mutanten wurde es zu viel, je öfter sie wie Dreck behandelt wurden und schließlich wurden sie zu den Monstern, die die Menschen in uns sehen wollten. Sie wollten nicht sehen, wer wir einst waren. Sie wollten nicht sehen, dass wir einmal die freundlichen Nachbarskinder von nebenan gewesen waren, dass wir einmal mit ihren Kindern zur Schule gegangen waren, oder einmal die Kinder gewesen waren, die bei ihnen an der Kasse standen und sie uns ein Bonbon gegeben hatten. Es war so, als hätte es uns nie gegeben, als wären wir immer schon diese Monster gewesen, vor denen sie sich fürchteten.

Und leider war es bei den Mutanten, die in den Krieg zogen nicht anders. Sie schalteten scheinbar ihre immer noch menschliche Seite einfach ab, als würden sie bloß einen Knopf drücken und sich vollkommen ihren manipulierten Instinkten hingeben, die manchmal weitaus blutrünstiger waren, als es Menschen je sein könnten. Menschen hatten keine Chance gegen sie. Doch auch sie töteten Mutanten mit Hilfe von neu entwickelten Waffen, da es manchmal ziemlich schwierig war, einen Mutanten zu töten. Wir waren schnell, wir waren robust. Jeder Mutant war anders. Manche hatten so dickte Haut, dass keine Kugel diese durchdringen konnte, andere wiederum konnten in ihrer Umwelt scheinbar unsichtbar werden und im Nichts verschwinden. Sie waren alle so verschieden und doch verband uns eines: Unser unschöner Part in der Vergangenheit, der bei mir bereits neun Jahre zurück lag. Seit neun Jahren hatte ich meine Familie nicht mehr gesehen. Es überraschte mich immer wieder, wie schnell die Zeit verging.

„Die haben nicht wirklich den Eiffelturm zerstört?" Liam sah ungläubig auf den Fernseher. Unten waren die Stimmen von Audra, Aldric und zwei weiteren Personen zu hören. Die Connors waren bereits seit einer Stunde hier und Liam und ich saßen in seinem Zimmer und schauten Nachrichten.

Frankreich hatte immer wieder betont, dass man alle Mutanten töten sollte, da sie zu viel Macht besaßen. Hinzu kam, dass Frankreich noch einige unschöne Aktionen durchgeführt hatte, um Mutanten zu töten. Daraufhin hatte England anscheinend die Mutanten nach Paris gebracht mit dem Befehl, als Warnung den Eiffelturm zu zerstören. In Paris herrschte das reinste Chaos.

Das Ausmaß der Gewalttaten war in den letzten Jahren angestiegen. Die, die die Mutanten töten wollten, ließ die Regierung angreifen, während sie die, die einfach nur mehr Rechte für Mutanten wollten, in Ruhe ließen. Die waren für die Regierung nicht gefährlich, solange sie sich ruhig verhielten.

Gegen Ambrosia allerdings konnte die Regierung nichts tun.

Wieder erschien die Nachrichtensprecherin im Bild. „Wieder einmal haben die Mutanten zum Wohle unseres Landes einen Befehl der Regierung ausgeführt. Mehr dazu jetzt von Assaya DiVere, die sich vor Ort in Paris befindet." Die Kamera zeigte nun eine Frau vor den Trümmern des Frankreicher Wahrzeichens.

Unten im Bild wurde Ort und Datum eingeblendet. „Paris, 14. Mai 2058."

Ich hörte nicht zu, was sie sagte, ich starrte einfach auf den Hintergrund, der die Trümmer zeigte und Menschen, die diese einfach fotografierten, als hätte dort kein Angriff stattgefunden, als sei es einfach nur eine Attraktion. Abscheulich. Berührte sie das denn überhaupt nicht?

Die Reporterin sprach darüber, als sei es ein Erfolg, auf den angestoßen werden sollte. Hatten die Menschen denn gar kein Gewissen mehr? Waren sie so von ihrer ganzen Macht und ihrem Einfluss geblendet?

Aus dem Wohnzimmer ertönte lautes Lachen. Vermutlich hatte Aldric nun den Witz erzählt, den er sich für heute extra aus dem Internet rausgesucht hatte. Er hatte sogar vor Liam und mir geübt, wie er ihn am besten herüberbrachte. Es war ziemlich merkwürdig gewesen.

„Denkst du, die haben auch mal vor zu gehen?", fragte Liam genervt und schaute auf die in der Wand eingebaute Digitaluhr.

Ich seufzte. „Ich denke, die bleiben noch eine Weile." Liam schnaubte und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Das Bild wurde wieder ausgetauscht durch das der Moderatorin im Studio.

„Und hier kommen wir auch nun zu der neuen Kollektion der berühmten Designerin Audra Harris! Sie war höchstpersönlich bei ihrer Modeschau letzte Woche vertreten und erst heute bekamen wir die Freigabe für das Videomaterial. Anscheinend hat Audra wieder einmal die gesamte Welt mit ihren Kreationen fasziniert, was meinst du, Rob?" Sie wandte sich an den anderen Moderator, der daraufhin bloß grinste und „Ganz bestimmt." sagte. Nun wurde ein Film von der Modenschau gezeigt, wegen der Audra letzte Woche ein paar Tage lang weg war. Mir hatte sie gesagt, dass ihre Models niemals so natürlich elegant und geschmeidig laufen konnten wie wir und es bei ihnen immer so aufgesetzt und künstlich wirkte.

Doch Audra grinste freundlich in die Kamera, als diese auf sie schwenkte, doch ich erkannte, dass sie zu dem Zeitpunkt eigentlich wütend war.

„Sie kann das echt gut, findest du nicht?", fragte ich, mit dem Blick auf den Bildschirm gerichtet.

„Was?" fragte Liam.

„So lächeln, als wäre alles bestens und als hätte sie Spaß."

Liam lachte leise und zog eine Augenbraue hoch. „Wundert dich das etwa? Du kennst sie doch!"

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich wollte es ja nur mal gesagt haben."

Liam verstrubbelte mir leise lachend das silberweiße Haar.

„Lass das." Ich schlug finster seine Hand weg. Er grinste nur.

„Da, sieh mal. Schon wieder wurde einer hingerichtet, nur weil er aus Versehen seinen Menschen angegriffen hatte." Das kam leider nicht selten vor. Wenn wir Wut spürten, konnten wir leichter die Kontrolle über uns verlieren, wenn wir wenig Selbstbeherrschung hatten oder nicht gelernt hatten, es zu unterdrücken. Und die Menschen trugen auch nicht gerade dazu bei, dass genau das nicht passierte. Und dann wunderten sie sich, wenn ein Mutant aus Versehen den Menschen angriff, dem er dienen musste. Natürlich gab es für Mutanten eigentlich keinen Prozess und auch niemand versuchte uns zu verstehen und sofort wurde der Mutant hingerichtet. Das Schlimme war, dass es meistens noch sehr junge Menschen waren, aller höchstens vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt.

Doch da damals Kinder aus der ganzen Welt entführt worden waren und wir dementsprechend viele waren, machte es der Regierung nichts aus, mal ein paar von uns töten zu lassen. Immerhin waren wir ja zahlreich.

„Denkst du, dass eines Tages alles wieder normal wird?", fragte Liam mich und ich vernahm Trauer in seiner Stimme. Er trauerte um die alte Zeit, in denen wir noch Menschen waren.

Ich schüttelte langsam den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht sich die Situation für uns verbessern, aber es wird niemals mehr wie damals werden. Dazu hat sich zu viel verändert, dass wir nicht mehr rückgängig machen können."

Liam stimmte seufzend zu. Er wusste es selber, dass es niemals mehr so wie damals werden würde. Dennoch schien er die Hoffnung nicht aufgeben zu wollen. Ich bewunderte, dass er noch immer hoffte. Ich hatte das schon vor langer Zeit aufgegeben. Wir konnten nicht mehr rückgängig machen, was damals passiert war. Dass wir entführt worden waren, dass wir zu etwas mutiert waren, das niemand verstehen konnte. Das jeder fürchtete und uns deshalb mit Hass gegenüber trat. Manche Eltern hatten damals aus Schreck und Angst ihre eigenen Kinder getötet, da sie sie nicht erkannten und auch nicht mehr glaubten, dass sie lebten. Hinzu kam noch, dass damals niemand von den Experimenten der Wissenschaftler wusste und dann auf einmal merkwürdige, unmenschliche Kinder vor ihrer Tür standen.

Auch jetzt würde ich mich immer noch nicht meiner Familie zeigen wollen. Ich wollte nicht den Schmerz fühlen, wenn sie mich nicht erkannten, wenn sie mich für ein Monster oder einfach für Abschaum hielten. Es wäre für mich tausendmal schlimmer, als ihnen wie damals einfach entrissen zu werden. Da hatten sie mich immerhin in guter Erinnerung gehabt und damit nach einiger Zeit abgeschlossen. Würde ich jetzt vor ihrer Tür stehen würde ich vielleicht auch noch alte Wunden aufreißen, würden sie mich erkennen und das wäre auch noch für meine Familie tausendmal schlimmer, wenn sie erkennen würden, dass ihre Tochter und seine Schwester nach all den Jahren doch noch am Leben war und nun ein abscheuliches Monster war.

Da wollte ich für sie lieber tot, aber in guter Erinnerung sein.

Es würde nur schmerzen.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt