Kapitel 106

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»Alles in Ordnung?«, wollte Siebenundvierzig wissen. Während des Telefonats hatte sie still auf ihrer Ecke des Sofas gesessen und sich so wenig wie möglich bewegt, um mich nicht zu stören.

»Ich glaube, ja.« Meine Stimme klang seltsam rau. In meinem Kopf erschien das, was gerade passiert war, noch immer so unwirklich. Hatte ich wirklich erst vor wenigen Minuten meine Mutter über ihren Social Media Account angeschrieben und anschließend ein Videotelefonat geführt? Jetzt, da das Handy bloß noch eine leblose gläserne Scheibe war, kam es mir wie ein Traum vor. Ich wünschte, Liam wäre hier. Er hätte genau die richtigen Worte gefunden. Wäre mir eine Stütze gewesen. Wie sollte ich all das nur jemals ohne ihn bewältigen? Die Kontaktaufnahme zu meinen Eltern wäre mir mit ihm an meiner Seite auch deutlich leichter gefallen. Aber wie sah es mit dem aus, was noch alles auf mich zu kommen würde?

»Also, auf mich klang das doch ganz gut.«, meinte Siebenundvierzig schulterzuckend. »Es wirkte, als hätten sie sich gefreut, dich zu sehen.«

»Das stimmt.« Dennoch saß mir das Gespräch noch schwer in den Knochen. Das Herz klopfte mir noch immer bis zum Hals.

»Dann verstehe ich nicht, weshalb du so aussiehst, als hättest du einen Geist gesehen.«, erwiderte sie und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ach, und du solltest endlich die Journalistin anrufen, jetzt, da du dich mit dem Telefonieren bereits aufgewärmt hast.« Feinfühlig war Siebenundvierzig nun wirklich nicht.

»Ist ja gut.«, brummte ich. »Lass mich dann aber bitte allein.« Irgendwie widerstrebte es mir, zu telefonieren, wenn jemand in meiner Nähe war. Vorhin war das ja noch in Ordnung gewesen. Das war schließlich auch etwas anderes gewesen. Da hatte ich ihre Anwesenheit als tröstlich wahrgenommen. Aber bei dem Gespräch mit Mrs Campbell brauchte ich sie wirklich nicht.

»Ja, ja. Kein Problem.« Siebenundvierzig grinste mir noch einmal kurz zu, ehe sie aufstand und das Zimmer verließ. Obwohl ich eigentlich lieber erst einmal etwas Zeit für mich haben wollte, um meine Gedanken zu ordnen, zog ich die Karte aus der Hosentasche, die die Journalistin mir gegeben hatte. Die dort abgedruckte Nummer tippte ich in das Handy ein und wartete. Einige Sekunden vergingen, ehe eine Stimme an mein Ohr drang.

»Octavia Campbell.«, meldete sich die Journalistin.

»Hallo. Hier ist Freya.«, sagte ich.

»Ah, Freya!« Sofort klang Mrs Campbell deutlich fröhlicher. »Was kann ich für dich tun?«

»Nun ja, wir haben nun die Möglichkeit, zu beweisen, dass es sich bei uns Mutanten tatsächlich mal um Menschen gehandelt hat.«, informierte ich sie.

»Was? Wirklich?« Die Journalistin klang ganz aufgeregt. »Das wäre wirklich fantastisch! Wie können wir das beweisen?«

»Ambrosia hat über jeden einzelnen von uns Akten geführt und Aufnahmen hinterlegt.«, fuhr ich fort. »Zwei von uns haben bereits einige davon geholt. Wenn Sie wollen, könnte ich Ihnen eine der Akten und die dazugehörigen Aufnahmen geben. Meine eigenen Unterlagen habe ich leider nicht.

»Fürs erste würden mir die Akte und die Aufnahmen reichen.«, meinte Mrs Campbell. »Aber da die Öffentlichkeit bereits dein Gesicht kennt, wäre es wirklich gut, später auch deine Unterlagen zu bekommen. Und auch wären die restlichen Akten und Aufnahmen von anderen noch hilfreich, um zu untermauern, dass es sich bei euch nicht nur um einen Einzelfall oder um gefälschte Unterlagen handelt. Wäre es möglich, mit den Unterlagen bereits heute schon zukommen zu lassen? Ich weiß nicht, ob die Zeit ausreicht, um das dann heute schon auszustrahlen, aber morgen würde es auf jeden Fall gehen.«

Zwiegespalten spielte ich am Saum meines Ärmels. Ich konnte ihr unseren Aufenthaltsort nicht verraten, um die Unterlagen abzuholen. Obwohl ich mir mittlerweile beinahe sicher war, dass sie uns wie Bill wirklich helfen wollte. Und ein Risiko wollte ich auch nicht eingehen. Es war etwas anderes, sich allein mit ihr auf irgendeinem Bauernhof zu treffen. Aber sie zu mir und all den anderen Mutanten hier zu führen? Das konnte ich nicht verantworten.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt