Kapitel 111

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»Nein! Gib nicht auf, Freya!«, schrie James mich an. »Du lässt mich hier nicht alleine! Wir schaffen das!« Ach, James. Wenn ich das doch nur glauben könnte ...

Unbarmherzig drückte Lucius zu. Schmerzhaft bohrten sich sein Krallen langsam aber sicher in meinen Hals. Dann ertönte ein Schuss. Schlagartig wurde ich losgelassen. Wie eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren, sank ich stöhnend zu Boden. Etwas Nasses lief über meinen Hals und ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass es sich dabei um mein Blut handelte.

»Du störst mich schon wieder.«, vernahm ich die Stimme meines Bruders.

»Dafür bin ich da.«, erwiderte James. »Und wenn du in dich hineinhorchen würdest, würdest du begreifen, dass du mir dafür dankbar bist.«

»Das hättest du wohl gerne.«, lachte Lucius rau. »Du bist so sehr in deinem Wunschdenken gefangen, dass du die Realität nicht begreifst.«

»Nicht ich bin gefangen, Luc.«, sagte sein bester Freund. »Sondern du. Wach endlich auf.«

Mein Bruder seufzte genervt. »Du hältst also an deinem Wunschdenken fest.«, stellte er bloß fest.

Die Augen offen zu halten erwies sich als Herkulesaufgabe. Meine Augenlider waren schwer wie Felsen und sobald ich meine Augen geöffnet hatte, fielen sie mir auch sogleich wieder zu. Dennoch bekam ich mit, wie Lucius' Schattenpeitsche vor schnellte und James die Pistole aus der Hand riss. Scheppernd landete sie auf dem Boden, weit außerhalb von James' Reichweite. Doch mir entging nicht, wie wenig mein Bruder seinen anderen Arm bewegte. Obwohl er vollkommen schwarze Kleidung trug, bemerkte ich den nassen Fleck an seiner Schulter. James hatte getroffen. Und offensichtlich hatte er sich entschieden.

Er hatte seinen besten Freund nicht aufgegeben. Hätte er das getan, hätte er auf Lucius' Stirn gezielt. Also würden wir Zeit schinden und hoffen. Hoffen, dass er noch immer irgendwo er selbst war und es schaffte, gegen Miss Magpies Manipulation anzukämpfen.

Meine Hand zitterte, als ich sie unter Anstrengungen hob. Mein Rücken schrie vor Schmerzen auf. Tränen schossen mir in die Augen, doch ich blinzelte sie entschlossen weg. Mein Hals protestierte. Es war schwer genug, den Kopf zu heben. Unzählige Messerstiche versuchten, mich niederzuringen. Mein eigener Körper verurteilte meine Versuche. Doch ich war nicht gewillt, aufzugeben. Ich musste nur genug Zeit schinden. Vielleicht reichte das aus. Hoffentlich reichte es aus. Bitte, bitte.

Lucius war bloß eine verschwommene dunkle Gestalt. Meine eigene Hand zitterte so stark, dass ich fürchtete, ihn zu verfehlen. Nur verletzen, nicht töten.

Mein Eis zu rufen fiel mir erschreckend schwer. Meine Schmerzen waren so überwältigend, dass ich beinahe schon glaubte, es wäre mir unmöglich. Doch dann funkelte es in der Sonne. Fünf wunderschöne Eisnadeln. Auf mein lautloses Kommando hin schossen sie still auf ihr Ziel zu. Mit einem Keuchen sank mein Bruder auf die Knie. Ich hatte ihn am Oberschenkel getroffen. Aber nicht an einer wichtigen Stelle. Gut so, es sollte schließlich nur wehtun und ihn nicht ausbluten lassen.

»Du schon wieder.«, knurrte er. »Du bist ganz schön hartnäckig. Wieso brichst du nicht?« Er war nicht so blöd, meine Eisnadeln herauszuziehen. Obwohl er Schmerzen haben musste, verzog er kaum das Gesicht und stand langsam wieder auf. Schatten sammelten sich zu seinen Füßen, flossen an seinen Beinen hinauf und formten in seiner Hand eine Peitsche.

Allein mich aufzusetzen ließ mich beinahe schreien. Doch ich presste meine Zähne zusammen. Ich musste durchhalten. Mit einer einzelnen Handbewegung schickte ich ihm eine ganze Ladung Eis entgegen. Zu meinem Pech stand die Sonne so, dass mein Eis Schatten auf Lucius warf, der sogleich in ihnen verschwand. Das Herz sank mir in die Hose. Ich konnte mich kaum bewegen. Wie sollte ich nach ihm Ausschau halten? Außerdem war meine Sicht gerade alles andere als optimal. Alles in mir kämpfte, um bei Bewusstsein zu bleiben.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt