Kapitel 70

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Kapitel 70

Fassungslos starrte ich ihn an. Liam sah nicht minder fassungslos und entsetzt aus. „WAS?!", rief er vom Donner gerührt aus. Er bemerkte nicht einmal, dass er es laut ausgesprochen hatte. Doch dadurch hatte er auch die Aufmerksamkeit der Jäger auf uns gezogen. Die sahen uns alle mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich konnte Kieran nur anstarren. Hatte ich das gerade richtig verstanden? Oder hatte er etwas vollkommen anderes gemeint? Wohl kaum.

Kieran hatte ...? Aber wie? Fassungslos beobachtete ich ihn. Wollte irgendeine Reaktion sehen. Doch es kam nichts. Kieran saß weiterhin ruhig neben mir. Er schien nicht einmal ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich konnte es mir kaum vorstellen, dass Kieran einmal aufgegeben haben sollte und sich dazu entschieden hatte, sich in ein Monster zu verwandeln. Kieran war mir immer so stark erschienen. Allerdings beschäftige mich noch eine weitere Frage: Wie hatte Kieran es geschafft aus diesem Zustand wieder heraus zu kommen?

Liam war im Gegensatz zu mir vollkommen entgeistert. Er war aufgesprungen und sah entsetzt auf Kieran herab. „Das hast du nicht getan!" Kieran, der sich wohl wieder in der Gegenwart befand, lachte trocken auf. „Ach, habe ich nicht?" Er erhob sich und stellte sich Liam gegenüber. Seine Augen zeigten nichts als Kälte.

„Nein, weil du sonst jetzt nicht hier stehen würdest!", fauchte Liam sah Kieran abschätzend an. Auf Kierans Lippen legte sich ein seltsames Grinsen. „Was weißt du schon?" Kierans Stimme schwang keine einzige Emotion mit. „Das einzige was du je gesehen hast, ist die Röhre der Wissenschaftler und den Trainingsraum. Und du meinst, dir sei es schlimm ergangen. Du weißt doch gar nicht, was wirklich schlimm ist." Kieran trat noch einen Schritt auf Liam zu. „Du meinst, die Menschen, bei denen du gelebt hast, seien schlimm? - Ja, ich weiß, dass du vorher bei den Clarks gelebt hat." Liam sah Kieran überrascht an. Er setzte an etwas zu sagen, doch Kieran war schneller. „Glaube mir, die Clarks sind nicht die schlimmsten. Außerdem hattest du das Glück, dass die Harris' dich bei sich aufgenommen haben." Liam schwieg. Überlegte, was er als nächstes sagen könnte.

„Hattest du eine Familie?", fragte Kieran. Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht. „Eine Familie, die dich über alles geliebt hat? Ich erinnere mich nicht mehr an meine Familie." Ein kleiner Stich machte sich in mir bemerkbar. Kieran erinnerte sich nicht mehr an seine Familie? Wie konnte das sein? Waren daran die Wissenschaftler Schuld, oder ...? Ich wagte kaum daran zu denken. Was, wenn Kieran entführt worden war, als er noch zu klein gewesen war um sich an irgendetwas zu erinnern? Hatte er etwa nur Erinnerungen an die Labore der Wissenschaftler? Auch Liam sah kurz erschrocken aus, doch schnell fasste er sich wieder. „Ich war einer der ersten, die entführt worden waren. Lange, bevor man euch holte.", knurrte Kieran. „Ich war beinahe drei Jahre alt und die Wissenschaftler wollten als erstes an Kindern in verschiedenen Altern Tests durchführen. Die ersten 39 Mutanten waren nicht mehr als Testobjekte. Ganz kleine Kinder, bis hin zu Jugendlichen. Während die Jugendlichen starben, überlebten die kleinen Kinder meistens die Tests." Scheiße, Kieran war tatsächlich im Labor aufgewachsen. Ich sah, wie entsetzt die Jäger aussahen, während sie Kieran lauschten. „Ich verbrachte zehn Jahre in einem Labor, das sie alleine für mich eingerichtet hatten. Ihnen war egal, was mit mir geschah. Ihnen war egal, ob ich durch ihre Tests sterben würde. Sie haben alles was möglich war an mir verändert." Es war unglaublich wie lange Kieran schon Augenkontakt mit Liam hielt. Während es Liam immer schwerer fiel, seinen Blick nicht zu senken, schien Kieran überhaupt keine Schwierigkeiten zu haben. „Wie jedes Kleinkind stellte ich irgendwann Fragen. Das gefiel den Wissenschaftlern natürlich überhaupt nicht." Kieran verzog schmerzlich sein Gesicht und fuhr mit seiner Hand unwillkürlich über seine linke Seite. Mir entging diese Geste nicht. Was hatten die Wissenschaftler ihm angetan? Ich erinnerte mich daran, wie selbstverständlich Kieran den Menschen die Kehlen aufgerissen hatte, als er uns bei unserer Flucht geholfen hatte. Was konnten die Wissenschaftler einem kleinen Jungen angetan haben, sodass er keine Scheu mehr hatte, zu töten? Zu töten, als sei es vollkommen normal? Es hatte Kieran nicht im geringsten ein schlechtes Gewissen bereitet.

Kieran fuhr mit seiner Erzählung über sein Leben bei Ambrosia nicht fort. Er ließ unzählige Fragen unbeantwortet. „Ich denke, ich muss mich nicht dafür rechtfertigen, mich für das Monster entschieden zu haben.", stellte Kieran gleichgültig klar. Nein, das musste er nicht. Und das, was er gerade erzählt hatte, war wohl auch nicht der einzige Grund sich dafür zu entscheiden. Er hatte vorhin ja auch noch die Menschen erwähnt und dass selbst die Clarks nicht so schlimm waren. Aber hatte er da von den Severos gesprochen? Ich glaubte nicht daran. Er musste schon davor bei anderen Menschen gelebt haben und sich dann für den Weg ohne Menschlichkeit entschieden haben. Oder? Oder hatte er sich bereits früher dazu entschieden? Vielleicht schon bei den Wissenschaftlern? Ich hatte keine Ahnung.

Alle schwiegen. Niemand wagte es noch Kieran anzusehen. Selbst Liam hatte seinen Blick nun gesenkt.

„W-Wie bist du da wieder heraus gekommen? Aus diesem ... Zustand?", wollte James wissen. Anscheinend hatte er schon von den Mutanten gehört, die zu richtigen Monstern wurden. Moment mal, wusste er überhaupt von so etwas? Immerhin waren für die Jäger alle Mutanten Monster gewesen. Kieran wandte sich James zu, der unter Kierans Blick zu schrumpfen schien. „Erst einmal musst du es selbst wollen.", sagte er. „Aber das ist eigentlich unmöglich. Ein Mutant, der sich entschieden hat, den leichten Weg zu gehen, denkt nicht mehr so, wie er es einmal getan hat."

James runzelte seine Stirn. „Und wie hast du es dann geschafft, wenn es unmöglich ist?", wollte er wissen. Ja, das war eine gute Frage. Ich musterte Kieran. Er hatte selbst gesagt, dass es unmöglich war.

„Ein ziemlich starker Wille wäre von Vorteil.", gab Kieran die karge Antwort und ging nicht mehr weiter auf die Frage ein. Sollte ich ihn vielleicht fragen, wie es gewesen war, so zu leben? Ich schielte zu Kieran. Doch sein Gesichtsausdruck war abweisend, weswegen ich mir diese Frage für später aufhob. Irgendwann mal würde ich ihn das fragen. Immerhin gab es sonst niemanden, der mir diese Frage beantworten konnte.

Freya Winter - MutantTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon