Kapitel 91.2

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Fassungslos starrten Lucius und ich Enya an. Konnte das möglich sein? War das auch sicher kein Missverständnis? Ich hatte erwartet, dass wir viel länger brauchten, um einen Plan zu schmieden und den dann anschließend umzusetzen.

„Ist er vertrauenswürdig?", erklang auf einmal eine skeptische Stimme von der Tür. Dort stand Samuel mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen. „Wenn er das nicht ist, bringen wir nicht nur Freya und Lucius in Gefahr, sondern locken auch noch Personen auf unsere Spur, die uns lieber nicht entdecken sollten."

Enya seufzte schwer. „Meinst du, daran habe ich nicht auch schon gedacht? Als ich mit ihm telefoniert habe, hat er mir erzählt, dass er öfters Mutanten schmuggelt oder schmuggeln lässt. Und dass das hier wohl leichter wird, als das, was er sonst tut."

„Und was wäre das?", wollte Samuel misstrauisch wissen. „Wir können uns keine Fehler erlauben, Enya." Er trat aus dem Türrahmen in das Wohnzimmer. Mit wenigen Schritten kam er zu uns. Doch er setzte sich nicht hin.

„Er hat es schon geschafft, ein paar Mutanten über das Meer zu bringen. Anschließend hat er dafür gesorgt, dass sie es bis nach Spanien oder in ein anderes Land kommen, das Spaniens Einstellung Mutanten gegenüber teilt. Aber hauptsächlich erfüllt er kleinere Aufträge.", erzählte Enya. „Er hat sich bereiterklärt, Freya und Lucius heute Mittag mit einem Auto aus der Stadt zu bringen und würde ihnen auch eine Mitfahrgelegenheit besorgen. Je nach dem, wo sie hin wollen."

Noch immer wirkte Samuel nicht überzeugt. „Hast du ihm von uns allen erzählt?", fragte er eindringlich.

Enya verdrehte ihre Augen. „Natürlich nicht. Er weiß nichts von dir oder den anderen. Er weiß nur von einem Geschwisterpaar, von dem die Schwester eine Mutantin ist und dass die beiden aufgrund der gestrigen Ereignisse London schnellst möglichst verlassen wollen.", sagte sie. „Ansonsten habe ich ihm nur erzählt, dass ich den menschlichen Bruder schon länger kenne und von seiner Schwester erst seit kurzem weiß."

Zwar wirkte Samuel noch immer nicht zufrieden, doch er nickte knapp. Seine tiefschwarzen Augen lagen eindringlich auf seiner Cousine. „Und was für ein Mensch ist dieser ehemalige Klassenkamerad?", harkte er unbeirrt nach.

Enya ließ diese Fragerei einfach über sich ergehen. Ihr war anzusehen, dass sie genervt war, doch sie hielt sich zurück. „Sein Name ist Bill Graycon und damals in der Schule war er immer ziemlich ruhig. Allerdings war er immer sehr einfühlsam, soweit ich mich erinnere. Wenn er mitbekommen hat, das jemand schlecht behandelt wurde, ist er immer eingeschritten."

„Was macht er heute?", bohrte Samuel weiter.

„Wenn er nicht gerade Mutanten schmuggelt, arbeitet er in der Firma seiner Eltern.", antwortete Enya. „Hast du schon einmal von der Marke 'MaWiCon' gehört?"

„Ist das nicht diese Firma, die überteuerte Kleidung und Accessoires verkauft?", überlegte Samuel, woraufhin Enya nickte.

Lucius runzelte seine Stirn. „Kleidung? Bist du dir sicher? MaWiCon klingt eher wie eine Firma, die Technik verkauft.", meinte er. „Wartet kurz." Seine Hand verschwand in seiner rechten Hosentasche. Kurz darauf zog er sie wieder heraus. Mein Blick fiel auf eine merkwürdige dunkle Scheibe, die halb transparent war.

„Was ist das?", wollte ich stirnrunzelnd wissen. Lucius wendete die Scheibe, ohne mir zu antworten. Forschend wanderten seine Augen über das Objekt. „Aha. Wusste ich es doch.", murmelt er leise, zeigte mir die Scheibe und deutete auf etwas in der rechten unteren Ecke. Es war zwar nur klein, aber unzweifelhaft eine Eingravierung. In metallisch grauen Buchstaben stand dort ganz unverkennbar „MaWiCon". Vorsichtig nahm ich die Scheibe in meine Hände und betrachtete sie eingehend. An sich sah es einfach aus wie ein relativ dünn und schön geschliffenes Stück dunkles Glas, dessen Ecken abgerundet worden waren. Es war kaum größer als meine Hand und recht schmal.

„Das ist so etwas wie ein Handy. Nur kannst du damit keine Anrufe tätigen. Ansonsten kann es noch unsere Geräte umprogrammieren und auch elektrische Geräte abschalten. Zumindest für einen gewissen Zeitraum. Dafür muss man nicht einmal ein Profi sein.", erklärte er.

„Und wozu ist das gut?", wollte Enya ahnungslos wissen.

Jetzt war es Lucius wohl unangenehm. Verlegen strich er sich mit der Handüber den Nacken. „Nun ja. Du hast damit Zugriff auf das Internet. Aber ansonsten wird es eigentlich für die Jagd nach Mutanten benutzt. Beispielsweise ist es sehr hilfreich, wenn du an einenMutanten herankommen willst, der in einem Haus lebt, in dem es Sicherheitskameras gibt. Diese können dann ausgeschaltet werden. Außerdem kannst du in einem bestimmten Radius für einen Stromausfall sorgen. Allerdings kommt das Teil nur sehr selten zum Einsatz." Vier Augenpaare starrten Lucius fassungslos an. Diesem war das unangenehm. Immerhin war er immer noch ein Jäger, der sich in einem Unterschlupf von Mutanten befand.

Entgeistert starrte ich die kleine Platte an. „Weißt du eigentlich, was das Ding in den Händen von Kriminellen alles anstellen kann?" Kopfschüttelnd gab ich ihm die Scheibe zurück.

„Darum gibt es davon nur sehr wenige und diese werden ausschließlich an Jäger herausgegeben. MaWiCon ist eine der Firmen, die an Technologien für Mutanten forschen.", erklärte mein Bruder.

Nicht überzeugt ließ ich das einfach mal so stehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieses Gerät nicht auch aus Versehen in den falschen Händen landete, zumal die Hände von Jägern für mich definitiv auch zu den falschen Händen zählten. „Wenn dieses Teil Überwachungskameras ausschalten kann, weshalb hast du es dann nicht benutzt, als wir im Gefängnis waren?"

Lucius seufzte. „Das Gerät ist leider nicht sehr zuverlässig. Die Zeit, die die Kameras ausgeschaltet sein können, variiert immer mal wieder. Ich konnte also nicht mit Sicherheit sagen, wie lange wir ungesehen im Gefängnis sein könnten. Außerdem hätte ich es nicht geschafft, alle Kameras auszuschalten. Das bekommt das Gerät nicht hin.", sagte mein Bruder.

Samuel schnaubte. „Milliarden für die Forschung!", griff er die gestrigen Nachrichten wieder auf. „Für so etwas?" Missbilligend betrachtete er die dunkle Scheibe, die Lucius sich wieder in die Hosentasche steckte. „Natürlich wieder nur etwas, um uns ausschalten zu können."

„Also ist MaWiCon eine Firma, die Geräte entwickelt, die den Jägern dabei helfen, uns zu töten.", fasste ich trocken zusammen. Und unser Weg hier raus sollte über den Sohn des Firmenchefs führen, der ebenfalls in dieser Firma arbeitete. Das klang nicht sehr vertrauenswürdig.

Betretendes Schweigen hüllte uns ein. An sich klang dieser Bill Grayson ja nach einem freundlichen Menschen. Aber das, was Enya uns über ihn erzählen konnte, beruhte auf Informationen, die bereits einige Jahre alt waren. Heute konnte dieser Mann ganz anders sein. Und wieso arbeitete er in einer Firma, die dazu führte, dass Mutanten Schaden nahmen und half Mutanten zugleich, zu fliehen? Das passte nicht zusammen.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt