Kapitel 66

3.9K 390 38
                                    

Kapitel 66

Wir gingen nicht sofort zurück zu den anderen. Wir saßen nebeneinander auf dem Waldboden vor dem See. Die Blätter rauschten im seichten Wind und das Wasser gurgelte leise vor sich hin. „Wieso hast du dieser Frau geglaubt?", wollte ich wissen. Lucius zuckte mit seinen Schultern. „Ich war gerade mal neun oder zehn, Frey. Und ich war verzweifelt. Du warst noch immer verschollen. Was sollte ich denn glauben?" Er seufzte. „Und dann war da halt diese Frau, die mir von Mutationen erzählte und dass eine von ihnen dich getötet hätte, einfach, weil du gerade da gewesen warst." Verbissen starrte er auf das ruhige Wasser. Ich verstand weshalb er ihr geglaubt hatte. Ich hätte es vermutlich auch getan. „Natürlich glaubte ich zuerst nicht an Mutationen.", fuhr mein Bruder fort. „Doch als dann ein paar Jahre später tatsächlich welche auftauchten, hatte ich keine Zweifel mehr." Tja. Und dann war er ein Jäger geworden. Weil er sich rächen wollte.

„Wissen es -", begann ich und wurde unterbrochen. „Mum und Dad? Ja.", beantwortete Lucius meine halb ausgesprochene Frage. „Sie sagen nicht sehr viel dazu. Sie sehen das recht neutral. Das einzige was sie dabei interessiert, ist, dass ich dabei sterben könnte.", sagte Lucius. „Sie wollen nicht noch ein Kind verlieren. Deshalb soll ich auch regelmäßig zurück kommen, damit sie sich vergewissern können, dass ich noch am Leben bin." Das war verständlich. Moment mal. Mum und Dad? Blieb Mum mittlerweile Zuhause? Doch eine weitere Frage brannte in mir. „Wie ... Wie stehen sie zu Mutanten?", es fiel mir schwer diese Frage zu stellen, aus Angst, dass mir die Antwort darauf nicht gefiel. Zuerst antwortete Lucius mir nicht. Er sah ein wenig zerknirscht aus. „Sie ... nun ja.", suchte er nach den richtigen Worten. „Sie glauben an das, was auch geglaubt hatte. Ich denke, du kannst dir dann selbst beantworten, wie sie zu Mutanten stehen." Er kratzte sich beschämt am Nacken. Wieso hatte ich mir überhaupt Hoffnungen gemacht? Es gab nicht viele Menschen, die so wie Audra und Aldric waren. Die beiden waren Ausnahmen. Obwohl ich mir das schon fast gedacht hatte, machte es mich traurig. „Aber ihr habt zu Hause keinen Mutanten. Oder?", wollte ich zum Schluss noch wissen. Lucius schüttelte seinen Kopf. „Ich bin Jäger, Frey. Natürlich haben wir zu Hause keinen Mutanten." Ich schwieg. Natürlich nicht. Wie konnte ich auch nur an so etwas denken? Das war blöd von mir. „Hey, du brauchst dich doch nicht zu schämen.", sagte er und lächelte mich an. „Außerdem wird das alles schon wieder. Ich helfe dir dabei." Zweifelnd hob ich meinen Kopf. „Das ist nicht so einfach, Luc.", merkte ich an. „Du müsstest mir helfen gegen das ganze Land anzukommen." Lucius zuckte mit seinen Schultern. Er schien nicht so, als wäre das neu für ihn. Er wusste auf was er sich da einließ. „Das weiß ich.", sagte er. „Und wir schaffen das schon. Außerdem müssen wir nicht allein gegen ein ganzes Land ankommen. Du hast noch Liam und Kieran und ich habe meine Jäger."

Zweifelnd hob ich eine Augenbraue. „Sie müssen nicht mitmachen. Ich kann sie nicht irgendwo reinziehen, ohne dass sie es eigentlich wollen." Zu meiner Überraschung lachte Lucius. „Du willst uns nicht irgendwo reinziehen? Freya, wir sind Jäger. Da macht es kein Unterschied mehr, wenn wir dir helfen." Er grinste. „Außerdem, denkst du etwa, dass James einfach so geht und uns im Stich lässt? Oder Mikéle? Der hat zu viele Schuldgefühle um dich noch einmal alleine zu lassen. Und wenn Mikéle mitmacht, machen automatisch auch Jo und Levi mit. Denn die lassen Mikéle nicht im Stich."

„Die einzige, die also gehen würde, könnte Brenda sein.", stellte ich fest und Lucius nickte. „Und wenn, ist es auch egal. Wir sind dann immer noch acht Personen.", sagte er und zuckte gleichgültig mit seinen Schultern. „Und wenn wir diese Frau aus dem Gefängnis holen, sind wir wieder neun."

„Audra.", korrigierte ich ihn. „Sie heißt Audra." Lucius nickte nur und lehnte sich zurück. Er schien nachzudenken. „Wieso bist du eigentlich nicht nach Hause gekommen?", fragte er. „Damals, als ihr alle frei gekommen seid?" Ich lachte bitter auf. „Ist die Frage ernst gemeint?" Ich lehnte mich an einen Baumstamm. Die raue Rinde drückte sich in meinen Rücken. Zerknirscht starrte Lucius auf das Wasser. „Meine Frage war blöd.", stellte er fest. „Vergiss, dass ich gefragt habe." Verstohlen schielte er zu mir herüber. Ich konnte Lucius ansehen, dass eine weitere Frage auf seiner Zunge lag, doch er fühlte sich sichtlich unwohl diese auszusprechen. „Frag einfach.", sagte ich.

Langsam verließen die Wörter seine Lippen und ich erstarrte. „Wie kannst du noch am Leben sein, obwohl du gestorben bist?" Schnell fügte er noch hinzu: „Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst!" Ich konnte ihn nur anstarren. Woher wusste Lucius davon? Ein Schauer lief mir über den Rücken. Obwohl er es wusste glaubte er, dass ich ich war. Doch was hatte ihn dazu gebracht, das dennoch zu glauben?

„Ich weiß es nicht.", antwortete ich schließlich langsam. „Ich weiß nur, dass mein Herz stehen geblieben ist und ich irgendwann danach bei den Müllcontainern aufgewacht bin." Lucius ging zum Glück nicht weiter darauf ein, sonder fragte nach etwas anderem. Dennoch schien er noch immer ein wenig unsicher zu sein. „In deiner Akte steht, dass du defekt bist.", sagte Lucius. „Wieso?" Die Akte. Natürlich. Er hatte die Akte gelesen. Wieso bin ich da nicht von Anfang an drauf gekommen? „Ich habe eine Angestellte von Ambrosia angegriffen.", erklärte ich. „Deswegen bin ich defekt. Weil ich mich gegen sie gewährt habe."

„Hm mh.", machte Lucius in Gedanken versunken.

„Aber jetzt wieder zu dir.", wollte ich das Thema ändern und riss somit meinen Bruder aus seinen Gedanken. Dieser sah nicht sehr begeistert aus. „Bei mir gibt es nicht wirklich viel zu erzählen.", meinte er. „Du weißt schon das Wichtigste. Dass diese Frau mir gesagt hat, dass du tot seist. Dass ich ein Jäger geworden bin, genau wie James und die Reyes." Ja, das wusste ich schon. Aber ich wollte etwas anderes wissen. Wie es weitergegangen war, nach meinem Verschwinden. Das schien Lucius nun auch zu verstehen. „Ach so. Das willst du wissen.", murmelte er und seufzte. Er setzte sich gerade auf und stützte seine Hände rechts und links von sich auf den Boden. Seine Finger gruben sich in die weiche Erde. „Wir haben dich natürlich alle gesucht, nachdem Mikéle zu uns nach Hause kam und schneller redete, als dass wir ihn verstehen konnten." Lucius sah zu einem unbestimmten Punkt in die Ferne. „Dad hat sofort die Polizei gerufen, doch die wollten erst einmal nicht helfen. Die Polizisten meinten, dass wir uns in ein paar Stunden wieder melden sollten, wenn du immer noch nicht wieder zurück seist. Also haben wir erst einmal alleine nach dir gesucht. Später haben wir die Polizei wieder angerufen, doch du wurdest nicht gefunden." Lucius fuhr sich in Gedanken versunken mit der Hand durch das schwarze Haar. „Mum und Dad blieben Wochen lang Zuhause. Ich ging jedoch weiterhin zur Schule. Du glaubst ja gar nicht, wie verzweifelt Mikéle war! Der wollte nicht mehr von meiner Seite weichen. Seine Schuldgefühle zerfraßen ihn." Lucius zuckte mit seinen Schultern. „Na ja. Da Mikéle bei James und mir war, kam schließlich auch Jo immer öfter zu uns. Zu dritt suchten wir nach der Schule nach dir. Irgendwann kam dann auch Levi dazu." Lucius atmete tief ein und aus. „Mir ging es richtig dreckig. Ich glaube, James und die anderen hatten manchmal wirklich genug von mir. Doch sie blieben." In mir zog sich etwas zusammen. Seine Lippen waren so fest aufeinander gepresst, dass sie beinahe weiß erschienen. Er wollte nicht mehr weiter über diese Zeit reden. Also versuchte ich das Thema zu wechseln. „Wie habt ihr Brenda kennen gelernt?", wollte ich wissen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie auf unsere Grundschule gegangen war oder bei uns in der Stadt gewohnt hat. Lucius seufzte tief und rieb mit seiner Hand über seinen Nacken. „Brenda, hm? Okay.", begann er. „Brenda haben wir erst vor drei Jahren kennengelernt, als wir nach Mutanten gesucht haben. Sie stand vor ihrer Haustür. Vor ihr stand da so ein Mutant mit blau-schwarzen Haaren. Der wirkte ziemlich verzweifelt und redete auf sie ein. Brenda hielt in ihrer Hand eine Pistole. Ihre Hand zitterte. Ich weiß nicht wie alt er gewesen war. Ich glaube sechzehn oder siebzehn. Ich konnte schon von weitem sehen, dass sie Angst hatten. Beide. Der Junge machte einen vorsichtigen Schritt auf Brenda zu, seine Hände hatte er wegen Brendas Pistole oben gehalten. Noch ehe er etwas sagen konnte, hat Brenda geschossen und er fiel tot um." Lucius kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Eine düstere Vorahnung beschlich mich. Und ich hoffte, dass sie sich nicht bewahrheiten würde. Lucius fuhr fort: „Wir nahmen Brenda bei uns auf. Sie hat aber auch gebettelt, dass wir sie aufnehmen. So haben wir sie kennen gelernt." Lucius verstummte und sah mich an. Seine Augen wirkten trüb. „Ich glaube, ich weiß, was du ahnst. Seit ich deine Akte gelesen habe, weiß ich mit Sicherheit, dass der Mutant vor Brendas Haustür von vor drei Jahren Brendas älterer Bruder gewesen war.", sagte mein Bruder leise. „Und sie hat ihn erschossen."

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt