Kapitel 81.2

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Als ich wieder zu mir kam, schmerzte mein gesamter Körper. Außerdem wares stockdunkel und ich war nicht mehr auf die Liege geschnallt. Stöhnend drehte ich mich auf die Seite. Ich fühlte mich noch immer ein wenig benebelt. Einige Minuten lang starrte ich einfach gedankenlos in die Dunkelheit.

Plötzlich schreckte ich auf. War ich jetzt wieder ein Mensch? Ängstlich berührte ich mit meiner Hand mein Gesicht. Meine Körpertemperatur schien sich nicht geändert zu haben, obwohl ich das schlecht selbst beurteilen konnte. Doch dann fiel mir etwas Anderes auf. Meine Haut war die einer Schlange. Schuppen. Stirnrunzelnd strich ich mit meiner Hand über meine Wange. Anschließend legte ich sie auf meinen Arm. Ebenfalls Schuppen. Hatte Clausens Serum nicht gewirkt? Für einen kurzen Moment war ich erleichtert. Bis mir ein anderer Gedanke kam. Ich erstarrte in meinen Bewegungen. Was, wenn es niemals Clausens Ziel gewesen war, meine Mutation wieder rückgängig zu machen? Was,wenn er genau das Gegenteil im Sinn gehabt hatte? Mein Blick zuckte zu einer der Glaswände, die mich gefangen hielten. Mir leuchteten abnormale Augen entgegen. Der Augapfel glühte in einem intensiven orange, während sich blutrote Sprenkel darin befanden. Die Pupillen waren die einer Schlange. Fassungslos starrte ich auf die Reflexion. So waren meine Augen aber nicht gewesen, als ich sie das letzte mal in ihrer Schlangenform gesehen hatte.

Wenn ich Recht hatte und Clausen wirklich vorgehabt hatte, meine Mutation zu verstärken, dann schien es ihm auf den ersten Blick gelungen zu sein. Wieso sonst würde ich mit Schuppen und solchen Augen aufwachen, ohne dass ich während ich schlief das Gefühl hatte, angegriffen zu werden oder angreifen zu wollen? Obwohl ich versuchte mich zu entspannen, änderte sich nichts an meinem Äußeren. Plötzlich entfloh mir ein ungläubiges Lachen. Lucius hatte eigentlich vorgehabt meine Mutation rückgängig zu machen. Ironischer Weise hatte er genau bei dem Gegenteil mitgeholfen. Doch so schnell mein Lachen gekommen war, so schnell erlosch es wieder. Meine Lippen wurden zu einer schmalen Linie. Schon vorher war es für mich schwer gewesen nicht aufzufallen. Jetzt schien es mir schier unmöglich. Nun konnte niemand mehr übersehen, dass ich in keinster Weise menschlich war. Frustriert setzte ich mich und lehnte meinen Kopf an das Glas. Ich würde nie wieder nach draußen gehen können. Sobald ein Mensch mich sehen würde, würde er die Polizei rufen oder selber angreifen. Ich würde das Monster verkörpern, das die Menschen schon immer gesehen hatten.

Plötzlich ertönte das Quietschen der Tür. Alarmiert schoss mein Blick zur Quelle des Geräusches. Durch die geöffnete Tür fiel Licht, das gerade mal die Hälfte meines Gefängnisses durchquerte. Ich selbst befand mich auf der dunklen Seite. Eine Gestalt, die ich schnell als Lucius identifizierte, schlich sich, so leise wie es ihm möglich war, an meine Zelle heran. Angewidert verzog ich mein Gesicht, als ich die Neugier und Hoffnung in Lucius' Augen erkannte. Obwohl er sich dafür eingesetzt hatte, dass mir das Serum nicht verabreicht wurde, konnte er es nicht lassen jetzt zu hoffen, dass ich nun doch wieder menschlich war. Sehnsüchtig versuchte mein Bruder einen Blick auf mich zu erhaschen. Doch da ich mich in der vollkommenen Dunkelheit befand, wurde ihm das nicht ermöglicht. Letztendlich hatte allein sein Gewissen dafür gesorgt, mir beizustehen. Jedoch war er nicht mit ganzem Herzen dabei gewesen. Hätte er mir gegenüber kein schlechtes Gewissen gehabt, hätte Lucius mir das Serum persönlich verabreicht. Und das war widerlich.

„Freya?", flüsterte Lucius und seine Augen glitten suchend durch meine Zelle. Zusätzlich zu seiner Hoffnung sah ich ihm sein schlechtes Gewissen an. Er war sich wohl nicht sicher gewesen, ob er überhaupt kommen und nachschauen sollte. Aber seine Neugier war zu groß gewesen. Seine Hand legte sich leicht auf das Glas. „Freya?", wiederholte er. „Bist du wach?" Am liebsten wollte ich schweigen und ihn versauern lassen. Allerdings konnte ich mich auch ein wenig rächen, indem ich ihm das Ausmaß seines Verrats zeigte.

„Ja.", sagte ich leise. Jedoch klang es mehr nach einem wütenden Knurren. Dennoch wirkte Lucius erleichtert.

„Wie geht es dir?", wollte er mit gesenkter Stimme wissen. Sein gesamtes Auftreten triefte vor schlechtem Gewissen und Reue. Er wusste, dass er dabei war, mich vollkommen zu verlieren. Und das wollte er verhindern. Jedoch konnte ich nicht sagen, ob es nicht bereits zu spät war. Als er keine Antwort von mir erhielt, seufzte er tief. „Freya, ich will doch nur dein Bestes." Das brachte mich dazu, freudlos aufzulachen.

„Ja, genau.", höhnte ich voller Abscheu. „Das sagte Clausen auch, weißt du? Und wie kann es sein, dass das, was du für mein Bestes hältst, mir überhaupt nicht gefällt? Erkennst du den Fehler? Das Einzige, das du willst, ist dein Bestes. Und scheinbar brauchst du dafür eine menschliche Schwester, weil du eine Mutantin nicht akzeptieren kannst."

Verzweifelt versuchte Lucius sich zu rechtfertigen: „Nein, so ist das n-" Doch ich ließ ihn nicht ausreden. „Ist es wohl!", fuhr ich ihn zornig an. „Du bist ein Jäger. Das verstehe ich. Du hast gelernt, Mutanten zu hassen. Aber das ist keine Rechtfertigung."

„Freya, hör mir zu -"

„Nein!", unterbrach ich ihn harsch. „Du wirst mir jetzt zuhören!" Seine Verzweiflung war ihm von Sekunde zu Sekunde mehr anzusehen. Doch ich schenkte dem keine Beachtung. Diese Worte mussten gesagt werden. Jetzt. „Ich kann verstehen, dass du dir die alten Zeiten zurück wünscht. Aber diese Zeiten sind vorbei. Sie gehören der Vergangenheit an. Nichts und niemand kann das Geschehene rückgängig machen. Wir müssen lernen, damit zu leben und uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Im Gegensatz zu dir habe ich das geschafft." Lucius setzte an, etwas zu sagen, allerdings gab ich ihm keine Chance. „Und selbst wenn du die Vergangenheit ändern könntest. Wie würde das aussehen? Du wünscht dir mein altes Ich zurück. Aber wir waren damals acht, Lucius. Acht! Niemand kann sein Leben lang so bleiben, wie er als Kind gewesen ist. Auch du bist nicht der Selbe, wie der Junge, den ich in Erinnerung habe. Das mag traurig oder auch gut sein. Je nach dem, wie man es betrachtet. Doch es ist der normale Lauf der Dinge, Lucius. Diesen Prozess nennt man älter werden."

Mein Zwilling schwieg. Seine Hand hatte er bereits vom Glas genommen. Er wirkte verbittert. Scheinbar war es Lucius nie möglich gewesen, den Schicksalsschlag unserer Kindheit zu verarbeiten. Mein Bruder hing in der Vergangenheit fest. So sehr, dass er sich nicht auf die Gegenwart konzentrieren konnte. Das war auch der Grund, weshalb er ein Jäger geworden war. Weil er mit der Vergangenheit nicht abschließen konnte.

„Freya, ich -"

„Sei still." Lucius war still. Aus der Dunkelheit heraus betrachtete ich ihn. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stand er vor meiner Zelle. Jedoch waren seine Hände zu Fäusten geballt und seine Lippen zu einem schmalen Strich fusioniert. Verzweifelt suchte Lucius nach den richtigen Worten, doch sie entglitten ihm, noch bevor sie überhaupt in Reichweite waren. „Weißt du überhaupt, was du getan hast?", meine Stimme war ruhig, doch in ihr schwang eine Drohung mit. Langsam hob Lucius seinen Kopf. Seine Augen wirkten nun müde und leer. Als hätte ich ihn allein mit meinen Worten gebrochen.

„Was?", fragte er erschreckend heiser. „Was habe ich getan?" Lucius wirkte kraftlos, ausgelaugt. Mit trüben Blick sah er in meine Zelle und ich trat aus der Finsternis. Licht fiel auf meine Gestalt und führte Lucius das Ergebnis seines Verrats überdeutlich vor Augen. Entsetzen weitete sich auf auf seinem Gesicht aus. Unwillkürlich wich er einen Schritt vor meiner Zelle zurück. Fassungslos rang er nach Worten, während es ihm nicht möglich war, seine Augen von mir zu nehmen. „Nein!", hauchte er.

Unbarmherzig trat ich so nah an ihn heran, wie mein Gefängnis es mir ermöglichte. „Sieh dir ganz genau an, was du angerichtet hast!", zischte ich, wobei meine Augen zu lodern schienen. Lucius' Augen waren weit aufgerissen. Er fand keine Worte, die all das ausdrücken konnten, was im Moment in ihm vorging.

„Das ... das wollte ich nicht!", war das Einzige, das mein Zwilling aus sich herausbrachte.

„Ich weiß.", sagte ich und ein mitleidloses Lächeln zog meine Mundwinkel nach oben. „Es ist genau das Gegenteil von dem geschehen, was du eigentlich gewollt hast. Ironisch, nicht wahr?" Lucius war sprachlos. Doch ich war noch nicht fertig. „Jetzt solltest du dir vielleicht die Frage stellen, ob das vom Doktor beabsichtigt war oder nicht.", meinte ich eisig. „Denn so wie es aussieht, hast du mit einem Mann zusammengearbeitet, der nicht besser als Ambrosia ist." So langsam schienen meine Worte bei meinem Bruder anzukommen. Ich konnte mitverfolgen, wie eine Gänsehaut über Lucius' Rücken schlich. Konnte sehen, wie die Verzweiflung in ihm wuchs. Sah die Reue, die ihn zu erdrücken versuchte. Und ich fühlte nichts dabei. Nicht den kleinsten Hauch von Mitleid.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt