Kapitel 11

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Immer mehr Risse erschienen und zogen sich wie Spinnenweben über das Glas. Plötzlich zerbrach es klirrend. Unzählige kleine Splitter zerstoben wie Schnee. Blinzelnd fand ich mich in einem Regen aus Glas und Eis wieder.

Fassungslos stand ich bewegungslos an Ort und Stelle. Das Geschehene begriff ich nur langsam. Doch dann schien auch mein Kopf endlich zu begreifen, was meine Augen längst sahen. Ich war frei! Ich war wirklich frei! Zumindest fast. Wohlig warm durchströmte ein lange verloren geglaubtes Glücksgefühl meinen Körper. Vorsichtig, obwohl ich am liebsten laut lachend losstürmen wollte, streckte ich meine Hand aus. Streckte meinen Arm ganz durch. Ich traf auf keinen Widerstand. Nichts.

Und dann holte mich die Realität wieder ein. Schrillend heulten die Sirenen, vertrieben mein Glücksgefühl und schufen wieder Platz für die Angst. Rot flammte die Lampe auf, während das Heulen mir beinahe mein Trommelfell zerriss. Gequält zischend sank ich zu Boden, presste meine Hände fest auf meine Ohren. Der hohe Ton schien immer und immer wieder auf mein Gehirn einzustechen. Sie wussten Bescheid. Sie wussten, dass hier unten etwas nicht stimmte. Mir blieb nicht viel Zeit. Vor Schmerz beinahe blind presste ich meine Zähne fest zusammen und erhob mich zitternd. Langsam ließ ich die Hände sinken. Von draußen vernahm ich schon die hektischen Schreie, die sich Warnungen und Befehle zuriefen.

Ich konnte nicht einfach aufgeben. Nicht, wenn ich bereits so nahe an meinem Ziel war. Mein Blick fiel auf die Kamera und wie in Zeitlupe erhob ich meine Hand. Diese zersplitterte eingefroren in ihre Einzelteile.

Mein rechter Fuß war der erste, der die Röhre verließ und wieder auf dem Boden stand. Splitter knirschten. Mein linker Fuß folgte. Ich vernahm Schritte. Sie kamen näher. Nun schien es, als hätte sich mi einem Klicken ein Schalter in mir umgelegt. Sofort begriff ich, in was für einer Lage ich war. Mir blieb nur eine Chance. Diese einzige Chance. Ansonsten war alles umsonst und ich würde entweder auf ewig hier verrotten, oder sterben. Doch war zu sterben nicht sogar die bessere Option? Alles war besser als das hier, denn das war kein Leben.

Fest entschlossen schritt ich auf die Tür zu, die von meinem Eis so leicht zertrümmert wurde, als bestände sie lediglich aus morschem Holz.

„SCHNELLER!", hörte ich Stimmen rufen. Orientierungslos sah ich mich um. Ich musste wohl in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Doch sie hatten keine Chance gegen mich. Würden sie auch niemals haben. Ich würde mich nicht wieder einsperren lassen. Lieber starb ich.

Ich erblickte die Menschen, die schwer bewaffnet um die Ecke bogen und sich Befehle zuschrien. Sie alle richteten augenblicklich ihre Waffen auf mich.

„Bleib stehen!", befahl mir einer. „Oder ich werde den Befehl zum Schießen geben!"

Sie alle schienen Angst vor mir zu haben. Gewaltige Angst. Vor mir, einer Zwölfjährigen. Irgendwie war das ziemlich lustig. Oder gefiel mir einfach nur das Gefühl der Genugtuung, dass sie mich fürchteten? Immerhin waren sie es alle gewesen, die mich wie ein Tier eingesperrt hatten. Doch für sie galt ich als minderwertiger als ein Tier.

Provozierend machte ich einen Schritt auf sie zu. Sofort schoss einer von ihnen aus Panik. Das Geräusch hallte laut in dem leeren Gang.

„FEUERN!", schrie anscheinend ihr Anführer und hob seine Pistole. Alle anderen taten es ihm gleich. Oh, nein! Nicht mit mir! Sofort breitete ich meine beiden Arme aus. Wie ein Schatten, der die Erde verdunkelte, legte sich meine Kälte über den Gang. Kroch rasend schnell bis in den letzten Winkel. Die Temperaturen fielen drastisch.

Wie in Zeitlupe nahm ich wahr, wie sie alle schossen und die Kugel auf mich zuflogen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Bis mein Eis wuchs. Aus dem Nichts erhob es sich aus dem Boden, groß und fest, formte eine Eiswand, von der eisiger Nebel ausging. Mit lautem Knallen schlugen die Kugeln ein, doch drangen nicht bis zu mir durch. Die Eiswand fiel in Schnee zusammen. Meine Gegner waren ganz bleich geworden. Doch sie konnten rein gar nichts mehr dagegen tun, waren viel zu langsam. Machtlos standen sie mir gegenüber, konnten nur zusehen, wie die Eissplitter mit tödlicher Präzision auf sie zuschossen und sie allesamt pfählten.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now