Kapitel 92

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Entgeistert starrten mein Bruder und ich auf das Ding, das Bill ein „Auto" nannte. Im besten Fall war es eine Schrottkarre. Aber mehr nicht. Ob es überhaupt etwas auf der Straße zu suchen hatte, war fraglich.

»Das ist doch nicht dein Ernst.«, sprach Lucius perplex aus, was ich mir bereits gedacht hatte. Mit gerunzelter Stirn sah er Bill an. Dieser wirkte tatsächlich leicht gekränkt. Aber auch Enya und Samuel wirkten nicht sehr überzeugt.

Mittlerweile war es Mittag und laut Bill die beste Zeit, um aus der Stadt zu gelangen. Schließlich wäre es viel auffälliger, mitten in der Nacht zu fahren. Außerdem wussten die Polizisten, die die Leute kontrollierten, dass er London mittags meist verließ, da er aufgrund seiner Arbeit öfters mal wegfahren musste.

Und das Auto, mit dem er, obwohl er gutes Geld verdiente, fuhr, war offenbar diese Schrottmühle. Diese hatte am Bürgersteig geparkt, nur ein paar Meter von Enyas Haus entfernt. Da wir uns hier in der Öffentlichkeit befanden, trug ich einen Mantel, den Samuel mir gegeben hatte. Anscheinend hatte er mal einer Mutantin gehört, die bei ihnen gelebt hatte. Was jedoch jetzt mit ihr war, hatte Samuel mir nicht sagen wollen. „Sie braucht ihn nicht mehr." Das waren seine einzigen Worte gewesen. Und ich hatte auch nicht nachgefragt.

Der Mantel passte mir ganz gut. Zudem war er recht dünn, sodass es auch jetzt nicht zu warm wurde. Außerdem hatte ich mir die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und meine Hände in die Jackentaschen geschoben. Den Mantel, mit dem ich aus Clausens Labor geflohen war, hatte ich nicht wieder nehmen wollen. Schließlich hatte man mich damit bereits auf der Westminster Bridge gesehen.

Genau wie ich trug Samuel einen Mantel. Genau wie ich durfte niemand seine Haut und sein Gesicht sehen. Auch Lucius hatte sich lieber eine Kappe geben lassen, mit deren Schirm er sein Gesicht verdeckte. Die Einzige von uns, die sich nicht verstecken musste, war Enya. Genau wie Bill stand sie ohne irgendwelche „Verkleidung" an der Straße. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, während sie sich leicht vorbeugte, um den Wagen zu beäugen.

Skeptisch lagen meine Augen auf dem Fahrzeug. Es war mindestens zwanzig Jahre alt. Und es war klein. Kleiner als ich erwartet hatte. Wie wollte Bill meinen Bruder und mich dort unterbringen? Nur schwer konnte ich mir vorstellen, dass ich dort irgendwo in einem Hohlraum Platz finden sollte. Aber Lucius? Niemals würden wir beide dort hinein passen.

„Unterschätze dieses Auto nicht.", rügte Bill Lucius und schlug einmal breit lächelnd mit der flachen Hand auf die hellblaue Motorhaube. „Es fährt, es ist klein und kann Personen schmuggeln. Mehr braucht ihr nicht."

Das klang vielversprechend. Lucius und ich warfen einander zweifelnde Blicke zu. Das es fuhr, bezweifelte ich nicht. Sonst würde es nicht hier in Enyas Straße stehen. Aber wie lange würde es noch fahren?

„Das Teil sieht aus, als würde es jeden Moment auseinanderfallen.", kritisierte Lucius. „Wo hast du das überhaupt her? Aus dem letztenJahrhundert?" Kopfschüttelnd schulterte Lucius den dunkelblauen kleinen Rucksack, den Enya uns gegeben hatte. Mein Bruder ließ ihn schief von einer seiner Schultern hängen. Für unsere Reise hatte Enya uns ein paar Brote und etwas zu trinken eingepackt. Eigentlich hatte sie mir noch ein paar Geldscheine in die Hand drücken wollen, doch ich hatte abgelehnt. Lucius und ich kamen schon klar.

„Ich bitte dich.", sagte Bill. „Der Wagen ist von 2039, also nur neunzehn Jahre alt. Und er hat meiner Großmutter gehört. Außerdem fällt der Wagen auf. Das ist gut."

„Das ist gut?", wiederholte Enya skeptisch. „Wieso sollte das gut sein? Ist das nicht eher schlecht?" Zweifelnd verschränkte sie ihre Arme, während ihre Augen nach wie vor auf dem alten Fahrzeug lagen.

An Bills Stelle antwortete Samuel. Dieser hatte scheinbar verstanden, warum Bill diesen Wagen verwendete. „Das Auto ist auffällig. Darum würde man nicht vermuten, dass man darin etwas schmuggelt. In der Tat wäre es eigentlich ziemlich blöd, einen Wagen zu nehmen, an den sich andere erinnern."

Freya Winter - MutantDonde viven las historias. Descúbrelo ahora