Kapitel 76.2

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Lucius zog seine Augenbrauen nachdenklich zusammen, während er hoffnungsvoll in meine Richtung sah. Nein, Lucius! Nein! Das konnte er mir nicht antun! Wieso konnte er mich nicht einfach akzeptieren? War das denn so schwer? Wahrscheinlich würde er nicht so reagieren, hätte sich mein Aussehen damals nicht so dramatisch verändert.

„Und Sie können wirklich ein Heilmittel herstellen?", wollte Lucius von Doktor Clausen wissen. Verbittert wollte ich rufen, dass ich nicht krank war. Meine Mutation war keine Krankheit, die sich mit ein bisschen Medizin wieder vertreiben ließ.

„Aber natürlich.", meinte Clausen. „Wenn ich die Mutation nur genaustens erforsche, kann ich sie auch wieder umkehrbar machen. Schließlich hat es ja auch funktioniert, die DNA deiner Schwester zu verändern." Ich hasste es, dass sie von mir sprachen, als sei ich nicht anwesend. Das hier war mein Körper, von dem sie sprachen! Mein Körper, den die beiden verändern wollten, wie Ambrosia Jahre zuvor. Clausen war näher an Lucius herangetreten. „Die Genforschung ist so weit vorangeschritten, dass die Menschen ihre Lebensmittel nach ihren Wünschen verändern können. Auch Haustiere werden nach den Wünschen der Menschen geformt. - Du willst einen Hund, der bestimmte physische und psychische Eigenschaften in sich vereint? Kein Problem. - Und es ist weitaus mehr möglich. Das hat Ambrosia bewiesen."

Lucius sah hin und hergerissen aus. Obwohl er innerlich abwägte, wusste ich bereits, wie er sich entscheiden würde. Er wollte die alte Freya. Und nun hatte er die Chance. Er musste sich nicht mehr mit dieser unmenschlichen Freya abfinden. Dabei ahnte Lucius überhaupt nicht, wie sehr mich bereits der Gedanke daran schmerzte, dass er mich verändern wollte.

Doktor Clausen machte noch einen Schritt auf Lucius zu. „Wie du siehst, habe ich nichts Schlimmes vor. Ich möchte deiner Schwester und allen anderen Mutationen lediglich helfen, ihre Menschlichkeit wiederzufinden. Möchtest du das nicht auch? Stell dir nur vor, wie ihr wieder leben könntet, wie zuvor. Alles wäre wie damals. Ihr würdet wieder Zuhause leben. Und niemand würde deine Schwester auch nur schief ansehen, oder ihr gar etwas antun wollen. Freya wäre wieder ein Mensch. Wäre das nicht fantastisch, Lucius?"

Lucius schluckte. Verzweifelt sah er Clausen an. Innerlich rang er mit sich. Doch die Sehnsucht in seinen Augen sprach für sich. Er verriet mich. Langsam nickte mein Bruder. „Ja, wäre es." Seine Stimme war leise, aber verständlich. Und diese drei kleinen Wörter raubten mir alle Kraft. Meine bittere Enttäuschung über die Entscheidung meines Bruders ließ mich zusammensinken.

Ich brauchte gar nicht mehr zuhören, wie Clausen meinen Bruder um seine Hilfe bat. Denn Lucius sagte zu. Er würde mit Clausen arbeiten. Gegen mich. Er hatte einfach so über mein Schicksal entschieden. Dabei war ihm meine Meinung dazu so wichtig, dass er mich nicht einmal miteinbezogen hatte. Wie konnte er so leichtfertig über meine Zukunft entscheiden? Außerdem wusste Lucius doch von Ambrosias Laboren und den Experimenten. Er wusste, was mir angetan worden war. Und dennoch hatte er sich allein entschieden.

„Wunderbar!", rief Clauson, zog einen Schlüssel aus der Tasche seines Kittels und sperrte Lucius' Zelle auf. Mit gesenktem Kopf trat mein Bruder heraus. Dabei mied er es, in meine Richtung zu sehen. Am liebsten hätte ich ihn lauthals beschimpft, doch das Metallgebilde, das sich einmal um meinen Kopf schlang, verhinderte dies.

„Ich werde dir dann zeigen, wo du schlafen kannst. Und natürlich, wo sich das Bad und die Küche befinden.", sagte Clauson begeistert. An Varya gewandt sagte er: „Du nimmst Freya dann Blut ab und nimmst eine Speichelprobe." Dann legte er meinem Bruder die Hand auf den Rücken und schob ihn aus dem Raum. Hinter ihnen fiel die Tür zu. Ich konnte es kaum fassen: Erst verriet Lucius mich und jetzt ließer mich auch noch in diesem Labor allein. Wie konnte das mein Bruder sein?

Meine Verbitterung saß tief. Wenn ich hier irgendwann rauskommen sollte ... Für Lucius wäre es am Besten, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt ganz weit entfernt von mir aufhalten würde.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten, versuchte ruhig zu bleiben. Sie würden mir nicht schon wieder mein eigenes Selbst nehmen. Wenn sie den Körper von jemanden ändern wollten, sollten sie bei sich selbst anfangen. In diesem Moment hasste ich meinen Bruder so sehr, dass ich ihm selbst eine Mutation wünschte. Dann würde er endlich verstehen, wie sich das anfühlte. Dann wüsste er, wie es sich mit einer völlig neuen Version von sich selbst lebte.

Und genau dann erschien Varyas Kopf in meinem Sichtfeld. In ihrer Hand war eine Spritze. Ich versuchte, mich loszureißen. Dieses Ding sollte nicht einmal in die Nähe meiner Haut kommen! Am liebsten hätte ich meine Zähne gefletscht und geknurrt. Leider war das nicht möglich. Auch hätte ich Varya nur zu gerne tief gefroren, wie auch den Rest dieses verdammten Labors.

Varya legte eine Hand auf meinen Brustkorb und drückte mich in die Lehne des Stuhls. Außerdem hielt sie mich so ruhig. Trotz meiner Abwehrversuche, schaffte es die Nadel in meinen Hals. Wütend versuchte ich meine Beine zu befreien, um Varya wenigstens einen saftigen Tritt zu verpassen, doch die Fesseln ließen sich nicht zerstören. Bitter musste ich mit ansehen, wie sich der Hohlraum der Spritze mit meinem roten Blut füllte. Varya zog die Nadel aus meinem Hals und spritzte das Blut in die bereit gestellte Ampulle, die sie daraufhin verschloss. Die befüllte Ampulle wurde von Varya beschriftet und in eine spezielle Halterung gelegt.

Düstere Freude überkam mich. Nun würde Varya mir ein wenig der Mundschleimhaut entnehmen. Allerdings musste sie mir dafür das Metallgebilde abnehmen. Und dann würde ich sie beißen. Zwar würde mir Varyas Vergiftung nicht die Freiheit bringen, aber zumindest eine dunkle Genugtuung. Ich war nicht mehr so hilflos wie damals mit sieben Jahren. Varya musste nur ein Fehler passieren und ich würde zuschlagen. Ich war bereit. Ihre Hand näherte sich dem Gebilde, das meinen Mund geschlossen hielt. Sie legte ihren Daumen auf die linke Seite des Gebildes. Der Daumen wurde gescannt. Mit einem Klicken schob sich eine schmale Metallplatte zwischen meine Lippen und meine Zähne. Luft kam durch das Metallgebilde, was mir verriet, dass es sich zumindest an einer Stelle öffnete. Mein Mund wurde aufgepresst. Scheinbar gab es in dem Maulkorb einen eingebauten Wangenspreitzer, wie den, den es auch beim Kieferohrtopeden gab. Verärgert versuchte ich meine Zähne zusammenzubeißen, doch natürlich funktionierte das nicht. Ungerührt nahm Varya ein Wattestäbchen, strich es an der Innenseite meiner Wange entlang und legte es in eine der anderen Ampullen. Auch diese wurde verschlossen, beschriftet und in eine Halterung gelegt.

Wortlos legte Varya ihren Daumen erneut auf dieselbe Stelle wie zuvor und der Wangenspreitzer verschwand genauso wie die Lücke im Metallgebilde. Varya löste die Fesseln, packte mich wieder mit ihrem festen Griff und zog mich zurück zu meiner Zelle. Wortlos schubste sie mich hinein und verschloss die Glaswand, noch ehe ich mich zu ihr umdrehen konnte.

Wütend krachte meine rechte Faust auf das Glas, doch es gab wie zuvor nicht ein bisschen nach. Frustriert ließ ich meinen Arm wieder sinken und beobachtete Varya, die sich wieder auf ihren Stuhl setzte und ihre Zeitung weiter las.

Ich schob meinen Frust in den Hintergrund. Es würde mir nicht weiterhelfen, wenn ich frustriert nachgab. „Du bist ein Mutant.", stellte ich trocken fest. Varya sah nicht einmal auf. Obwohl sie mir vermutlich nicht antworten würde, entschied ich mich, meine Fragen zu stellen. „Wieso stellt die Regierung einen Mutanten ein? Und wieso willst du überhaupt hier im Labor arbeiten?" Varya zeigte keine Regung. „Du weißt, dass sie dich niemals akzeptieren oder wie einen Menschen behandeln werden?" Immer noch keine Regung. Aber das hatte ich auch nicht erwartet. „Sie werden dich nicht retten, wenn ein Jäger vor dir steht und dich töten will. In ihren Augen bist du minderwertig. Nur ein Mittel zum Zweck.", sagte ich. Meine Stimme war so trocken wie die Sahara. „Ich weiß zwar nicht, weshalb du hier bist, aber einige Vermutungen habe ich. Vielleicht bist du hier, um dich ein wenig mehr wie ein Mensch zu fühlen. Oder sie haben dich damals eingefangen, als die Mutanten aus den Laboren von Ambrosia ausbrachen und haben an dir experimentiert, wie sie einen Mutanten willenlos machen kann. Wie es aussieht hatten sie Erfolg." Varya blätterte auf die nächste Seite. „Du bist nicht besser als die Leute, die uns das hier antaten, wenn du hierbei mit machst. Du verrätst all die anderen Mutanten. Und auch dich selbst.", sagte ich. Meine Stimme klang härter als ich es eigentlich beabsichtigt hatte. „Lass dir meine Worte durch den Kopf gehen, wenn du das überhaupt noch kannst."

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now