Kapitel 93.2

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Erschrocken sah ich Lucius an. „Du musst sanfter bremsen!", rief ich fassungslos aus. Verärgert blickte er zu mir. „Dann fahr du doch, wenn du es besser weißt. Ich gebe hier mein Bestes, okay?"

„Schon gut, schon gut.", beschwichtigend winkte ich ab und ließ mich wieder in den Sitz sinken.

„Wo ist der Blinker?", wollte Lucius wissen, der nervös das Lenkrad und die Knöpfe absuchte. Immer wieder huschte sein Blick zum Rückspiegel. Hinter uns rollte ein weiteres Auto auf die Kreuzung zu.

„Bestimmt am Lenkrad. Da sind doch zwei Hebel. Probiere mal einen aus.", schlug ich vor. Nicht überzeugt betätigte Lucius den rechten Hebel. Augenblicklich gingen die Scheibenwischer an. Hinter uns ertönte ein verärgertes Hupen.

„Ja, ja. Moment noch.", brummte Lucius gestresst und drückte den rechten Hebel wieder nach unten. Die Scheibenwischer stoppten. Schnell betätigte er den linken Hebel, woraufhin der rechte Blinker anging. „Das ist der Falsche.", murmelte mein Bruder und drückte den Hebel in die andere Richtung. Jetzt blinkte der Wagen nach links. Erleichtert fuhr Lucius an und versuchte nach links zu lenken. Beinahe fuhr er dabei in den Gegenverkehr. Leise fluchte er. „Verdammt, auch das Lenken sieht bei Levi viel leichter aus!"

„Wo fährst du eigentlich hin?", wollte ich stirnrunzelnd wissen. Wenn er einen Plan hatte, dann sollte er mich gefälligst einweihen.

„Keine Ahnung.", sagte Lucius gereizt. „Ich versuche einfach, die einfachste Strecke für einen Fahranfänger zu wählen."

„Wäre es nicht besser, wenn wir erst einmal irgendwo halten, damit wir Sprit sparen? Immerhin sollten wir uns zuerst Gedanken machen, wohin wir fahren wollen, da wir nur einmal tanken gehen können.", gab ich zu Bedenken. Die Miene meines Bruders verfinsterte sich.

„Kannst du auch etwas Anderes, als mich die ganze Zeit zu kritisieren?", presste Lucius genervt hervor. Seine Finger schienen das Lenkrad zu zerquetschen.

„Ich kritisiere dich nicht. Ich will bloß nicht, dass wir nachher irgendwo im Nirgendwo liegen bleiben und unserem Ziel keinen Schritt näher gekommen sind.", erwiderte ich missbilligend.

„Und ob du mich kritisierst! Merkst du das nicht einmal?" Lucius warf mir einen düsteren Blick zu, ehe er sich wieder der Landstraße zuwandte.

„Fahr links ran.", befahl ich trocken. Zähneknirschend gehorchte mein Bruder. Selbst er musste zugeben, dass wir nicht einfach sinnlos umherfahren durften. Auch, wenn er das nicht laut zugab. Als er den Wagen geparkt und den Motor ausgeschaltet hatte, schwieg er.

Was hatte er vorhin noch gefragt? Ob Audra ein zweites Haus hätte? Lucius hatte recht. Wenn Audra eines besaß, dann würden dieBehörden davon wissen und es beobachten. Aber was, wenn Audra kein zweites Haus, dafür aber die Möglichkeit hatte, irgendwo unterzukommen? Augenblicklich erhellte sich meine Miene. Wieso hatte ich daran nicht schon vorher gedacht? Zwar besaß Audra kein Ferienhaus, aber dafür Aldrics verstorbene Großtante. Eigentlich gehörte es mittlerweile deren Tochter, doch diese war vor einigen Jahren ausgewandert, sodass niemand mehr dort nach dem Rechten sah. Vermutlich hatte sie ohnehin keinen Gedanken mehr an das alte Ferienhaus verschwendet. Einmal hatte Aldric Liam und mir erzählt, dass er in seiner Jungend oft dort war und dies oft der Familientreffpunkt gewesen war. Eines Tages war er mit ein paar Freunden dort hin gefahren und hatte dort ein Wochenende verbracht – Ohne, dass seine Großtante davon wusste. Dafür hatte er gewusst, wo sie den Ersatzschlüssel versteckt hatte. Und Audra wusste es demnach auch.

„Lucius, ich glaube, ich weiß, wo sie sind.", sagte ich mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen. Schlagartig drehte er seinen Kopf zu mir. Außerdem wirkte er wieder etwas freundlicher und weniger gereizt.

„Und wo?", wollte er wissen.

„An der Süd-Westküste steht das alte Ferienhaus von Aldrics Großtante. Audra weiß, wo der Ersatzschlüssel versteckt ist.", erklärte ich. „Es steht in Morvah und laut Aldric gibt es dort nicht viele andere Häuser. Es ist das perfekte Versteck."

Langsam nickte mein Bruder. „Und du glaubst, dass sie dorthin gegangen sind.", sagte er.

„Genau. Ein anderer Ort würde mir nicht einfallen. Dir etwa?" Auf meine Frage hin schüttelte Lucius den Kopf. Nachdenklich klopfte er mit seinem Zeigefinger auf das Lenkrad. „Aber wie kommen wir dorthin? Hat das Handy eine Navigationsfunktion?" Sofort kramte ich Bills Handy hervor und schaltete es ein. Es hatte keinen Sperrbildschirm. Und auch nur wenige Anwendungsmöglichkeiten. Eine davon war glücklicherweise die Navigation. Es dauerte nicht einmal eine Sekunde, da hatte das Gerät unseren Standort geortet.

„Wir sind hier: In der Nähe von Reading.", murmelte ich, während ich unsere Route eingab. „Okay. Von hier bis Morvah dauert es etwa viereinhalb Stunden." Kaum hatte ich das gesagt, stöhnte Lucius entsetzt auf.

„Müssen wir über die Autobahn?", fragte er. Dabei klang er so, als hätte er sich seinem Schicksal bereits ergeben.

Eigentlich brauchte ich keinen Blick mehr auf die digitale Karte zu werfen. Dennoch tat ich es. „Ja.", antwortete ich. „Hauptsächlich über die Autobahn."

„Gut.", meinte Lucius. „Dann schau mal, ob der Ton bereits an ist." Kurz sah er zu mir und ich nickte. „Dann kannst du die Route bestätigen – Warte mal, wie viel Akku hat das eigentlich?" Mein Bruder beugte sich zu mir herüber und spähte auf das Display. Zufrieden nickte er. „Ah, Solarenergie. Perfekt." Er zog sich wieder zurück und startete den Motor. Dieses Mal fiel es ihm viel leichter anzufahren. Ohne abzuwürgen oder den Motor zum Stottern zu bringen lenkte er den Wagen wieder auf die Straße. Zwar kam er noch nicht ganz mit der Lenkung klar, doch auch das würde sich bestimmt bessern. Immerhin hatte er über vier Stunden Zeit um zu üben.

„Glaub nicht, dass ich die ganzen vier Stunden über fahre.", sagte Lucius. „Wir werden uns abwechseln. Ansonsten traue ich mir das wirklich nicht zu, zu fahren."

Seufzend nickte ich. „In Ordnung." Das war nur fair. Außerdem konnte ich Lucius verstehen. Als wortwörtlicher Fahranfänger konnte er nicht einfach über vier Stunden durchfahren.

„Ich würde sagen, wir wechseln uns jede halbe Stunde ab. Wenn du magst, können wir auch erst einmal eine etwas ruhigere Straße suchen, wenn du dran bist und üben möchtest.", schlug er vor.

„Ja, das wäre wohl besser.", stimmte ich zu. Zufrieden lächelte Lucius. Die Gereiztheit von vorhin war gänzlich verflogen. Zwar war er beim Fahren noch immer ziemlich angespannt, aber es war besser als vorhin noch.

„In dreihundert Metern links abbiegen.", sagte die Stimme des Navigators. Vor uns tauchte ein Schild auf, das auf die Autobahn hinwies. Ich konnte Lucius schluckten sehen. Unruhig umklammerten seine Finger das Lenkrad.

„Du musst nicht schnell fahren.", versuchte ich ihn zu beruhigen. „Bleib einfach die ganze Zeit auf der linken Spur. Lass dich von den anderen einfach überholen." Angespannt nickte er.

„Links abbiegen.", sagte das Navi. Lucius bog links ab. Dabei kämpfte er ein wenig mit dem Lenkrad. Noch konnte er nicht einschätzen, wie weit er es eindrehen musste und deshalb wären wir beinahe in die Leitplanke gefahren. Gerade noch rechtzeitig riss Lucius das Lenkrad herum.

„Bin ich froh, wenn es gleich wieder nur geradeaus geht.", murmelte er vor sich hin. Seine Miene war ernst und aufmerksam. „Jetzt wäre es eigentlich ganz gut, wenn Varya mitgekommen wäre. Im Gegensatz zu mir hat sie bestimmt einen Führerschein."

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now