Kapitel 2

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Auch in der nächsten Stunde schien ich für meinen Bruder Luft zu sein. Das tat mir so weh und ich fühlte mich vollkommen hilflos. Was sollte ich in diesem Meer aus Kindern nur tun? Alle schienen bereits jemanden zu haben, nur ich nicht. Mein Zwilling hatte sich zu James gesetzt und nun konnte ich die beiden miteinander flüstern sehen. So hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Er wirkte ganz locker, dabei kannte er das andere Kind gerademal wenige Stunden.

Ach ja. Die Probleme, die man als Kind hatte. Damals hätte ich mir nichts Schlimmeres als das vorstellen. Vielleicht war das ein Segen der Kindheit. Vielleicht war es aber auch ein Fluch, denn somit war ich nicht auf die wirklichen Grausamkeiten der Welt vorbereitet gewesen.

Die ganze Zeit über erschien mir der forschende Blick meiner Klassenlehrerin wie ein böses Omen. Immerzu legten sich ihre kalten Augen auf mir. Wie ein Ungeheuer, das seine Beute erspäht hatte.

Umso glücklicher war ich, als der Tag vorüber war und ich mich auf den Weg nach Hause machen konnte. Wenig vor mir sah ich Lucius und James. Ich verzog schlecht gelaunt das Gesicht, als ich feststellte, dass James nur wenige Straßen weiter als wir wohnte. Hatte Lucius mich jetzt komplett eingetauscht oder war das bald vorbei? Vielleicht fand er James in ein paar Tagen ja nicht mehr so toll?

Ich schüttelte verärgert den Kopf. Natürlich durfte mein Bruder Freunde haben. Und der benötigte dringender welche, als ich. Lucius konnte ja nicht für immer mit seiner Zwillingsschwester rumhängen, wie sähe das denn aus?

Ich seufzte. Es sah so aus, als würde ich nun eine Einzelgängerin werden. Probleme mit dem Alleinsein hatte ich nie gehabt. Es hatte mir immer gereicht, wenn Lucius und ich zusammen gespielt hatten. Aber was tat ich nun ohne Lucius?

Dieser hielt mir nicht einmal die Tür auf, als ich hinter ihm in unser Haus wollte. Er hatte mich vollkommen vergessen und das versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Er ging zu Dad und dieser lächelte. „Und, wie war's?"

Lucius lächelte begeistert und seine Augen strahlten vor Freude. „Gut! Ich habe James kennengelernt! Dad, du musst ihn einmal kennenlernen! Er ist toll!"

Die Schatten des Flures tauchten meine Gestalt in Dunkelheit. Bedrückt stand ich im Flur und schaute ins Wohnzimmer. Mein Zwilling wirkte so glücklich wie schon lange nicht mehr. Befreit, als wäre eine große Last von seinen Schultern gefallen. Ein breites Lächeln zierte sein Gesicht.

„Und? Wie fand es deine Schwester?", wollte unser Vater schmunzelnd wissen.

Augenblicklich erbleichte mein Bruder. „Freya.", sagte er, als wäre ich ihm eben erst wieder eingefallen. Erschrocken fuhr er herum und erblickte mich im Dunkeln des Flures. „Freya, ich ..."

Ohne ein Wort zu sagen ging ich enttäuscht in Lucius' und mein Zimmer. Noch nie zuvor in meinem kurzen Leben hatte ich mich so einsam und allein gefühlt. Und ich begriff, dass es etwas völlig anderes war, wenn meine Mutter mich im Stich ließ, als wenn Lucius das tat. Das hier war schmerzhafter.

Lucius kam mir nicht einmal hinterher.

Erfüllt von Trübsal saß ich auf meinem Bett und schaute verdrossen aus dem Fenster. Nicht einmal Mom interessierte sich für das, was mit uns war. Unsere Gefühle scherten sie nicht. Sie verstand nicht, wie das für uns war, wenn sie uns allein ließ. Wenn sie mich allein ließ.

Lucius kam erst wieder in unser Zimmer, als es bereits Abend war. Ich stellte mich schlafend. Mir war einfach nicht danach, mit ihm zu reden. Er hatte mich heute so sehr verletzt. Zuvor hatte ich nicht einmal gewusst, dass er das konnte.

„Frey? Freya?", flüsterte er und ich spürte seinen warmen Atem mein Ohr streifen. Er klang bedrückt. „Es tut mir leid." Ich hörte, wie er mit nackten Füßen über den Boden tapste und sich in sein Bett legte, das leise knarzte. Ich schloss meine Augen und lauschte seinem Atem, der ruhiger wurde. Lucius war eingeschlafen.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt