Kapitel 108

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Die Polizisten musterten uns unwohl, doch keiner von ihnen machte Anstalten, etwas gegen uns zu unternehmen. Und ich musste gestehen, dass mir die Anwesenheit der Polizisten auch nicht gefiel. Auf unserer Flucht aus Clausens Labor waren sie auf der Westminster Bridge nicht unsere Freunde gewesen. Ganz im Gegenteil.

Sie ließen uns in Ruhe gemeinsam mit den anderen Menschen auf dem Platz demonstrieren. Nachdem sich die anfängliche Aufregung wegen unseres Auftauchens gelegt hatte, hatten sie wieder begonnen, fortzufahren.

»Ich sehe sie nicht. Sie sind zu weit weg.« Ein paar Menschen, die weiter entfernt standen, hatten aufgeregt versucht, einen kurzen Blick auf uns zu erhaschen. Offensichtlich ohne Erfolg.

»Menschenrechte für Mutanten!«

»Gebt unsere Kinder frei!«

Überall sah ich auch immer wieder große Ausdrucke von Sanyas Zeichnungen. Wenn sie das sehen könnte. Bestimmt wäre sie ziemlich stolz auf sich. Aber das auch mit gutem Grund.

Samuels Befürchtungen und die Warnung von Varyas Vater bezüglich Extremisten verschwanden immer weiter im Hintergrund. Dies hier lief so friedlich und perfekt ab, dass gar nichts mehr schiefgehen konnte. Und ich war mir sicher, dass Enya sowie Mrs Campbells Kameramann hier irgendwo herumstreunten, um Videoaufnahmen zu machen. Doch egal, wie oft ich nach ihnen Ausschau hielt, ich fand keinen von ihnen. Aber das beunruhigte mich nicht. Schließlich wollten sie auch gar nicht auffallen.

Auf einmal zogen laute aggressiv klingende Rufe meine Aufmerksamkeit auf sich. Was war denn jetzt auf einmal los? Bis vorhin war doch alles gut gewesen. Was hatte die Demonstranten denn jetzt so aufgewühlt? Aufmerksam schweiften meine Augen suchend über die Menge. Nein, von uns war das keiner. Während die eine Hälfte irritiert aussah, wirkte die andere resigniert, als wüsste sie schon, was uns jetzt erwartete.

»Gegendemonstranten?«, fragte Elliot.

Doch Siebenundvierzig schüttelte den Kopf. »So würde ich das nicht nennen.«, sagte sie. »Diese Leute kommen hierher, um Chaos zu stiften.«

»Bist du dir sicher?«, wollte ich stirnrunzelnd wissen. »Samuel sagte, dass bisher auf keiner Demonstration etwas Gravierendes geschehen sei.«

»Bisher waren auch auf keiner Demonstration Mutanten.«, entgegnete Siebenundvierzig trocken. Der Ton in ihrer Stimme gefiel mir gar nicht. Unheilvoll und resigniert. Sie erwartete einen Kampf. Ich konnte nur hoffen, dass sie falsch lag.

»Nieder mit den Mutanten!« Noch klangen die Rufe weit weg. Immerhin befanden wir uns hier relativ in der Mitte der Menschenmenge. Diese Leute mussten sich also noch am Rande befinden. Würden sie es schaffen, sich bis zu uns durchzuschlagen? Und wie sollten wir hier bitte kämpfen, ohne Unbeteiligte zu verletzen? Der Platz war so überfüllt, dass man sich hier kaum bewegen konnte, geschweige denn wegrennen.

»Geht nach Hause und hört auf, euch für diese Monster einzusetzen!«

»Sie sind doch keine Monster! Sie sind Menschen!«

»Vielleicht waren sie mal Menschen. Fakt ist: Jetzt sind sie es nicht mehr.«

»Reicht es euch nicht, die Schuppen des Mädchens und die Krallen und Zähne des Jungen zu sehen?«

»Tötet sie, bevor es zu spät ist! Sie werden unser Verderben sein!«

»Nein! Verschwindet!« Kurz darauf zerschnitt ein Schrei die Luft, der die Menschen erstarren ließ. Siebenundvierzig, Elliot und ich wechselten einen kurzen Blick.

»Was ist da los?«, knurrte Elliot, doch es befanden sich zu viele Menschen vor uns, um zu sehen, was da geschah. Plötzlich ertönte ein lauter Knall, gefolgt von einem weiteren Schrei.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now