Kapitel 79

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 Von niemandem würde ich mir reinreden lassen, wer ich zu sein hatte. Als ich geboren wurde, war ich Freya Winter. Als ich mutierte, war ich Freya Winter. Noch heute war ich Freya Winter. Das würde sich nicht ändern, auch wenn meine Gene verändert wurden. Und selbst, wenn so gut wie alles verändert worden war, existierte noch immer mein ursprünglicher Teil. Selbst Clausen hatte das gesagt. Also konnte ich seine Frage leicht beantworten: Ich war, wer ich war. Und das war Freya Winter. Ob er und Lucius das sehen wollten, lag nicht in meiner Hand. Aber das war auch nicht wichtig. Ich wusste es. Und das war genug. Wenn Lucius meinte, dass er es besser wüsste, konnte ich gut ohne ihn auskommen. Zwar war es schmerzlich, so von dem eigenen Bruder zu denken, aber er war selbst Schuld. So leid mir das auch tat. Das hier war mein Leben.

„Wie es aussieht, haben Sie nur das herausgefunden, was ich mir bereits hätte denken können.", sagte ich. Meine Stimme war stählern und schnitt wie eine frisch geschliffene Klinge. Meine Augen waren eisern und es fehlte jeder Funken Freundlichkeit in ihnen.

Für den Moment eines Wimpernschlages entwichen Doktor Clausen die Gesichtszüge. Sein breites Lächeln fiel von seinem Gesicht und zerschellte am Boden. Wie ich es bereits erwartet hatte, war er ein stolzer Mann, der viel zu viel von sich hielt. Dementsprechend gewaltig war sein Ego. Doch selbst jemand wie Clausen mochte es nicht, wenn man sein Ego mit Füßen trat. Vor allem, wenn dieser jemand in Clausens Augen nur ein Versuchsobjekt – minderwertig - war.

Jedoch baute er sich schneller als erwartet eine neue Maske auf. Erneut schien ein Lächeln auf seinen Lippen. Dieses mal ein noch viel breiteres. „Freya, ich bin ein hoch angesehener Doktor. Ich arbeite für bedeutende Leute.", sagte Clausen. Seine Stimme triefte vor falscher Freundlichkeit. „Wie ich bereits erwähnte, braucht Forschung ihre Zeit. Und um große Ziele zu erreichen, muss man kleinschrittig arbeiten, jedes Puzzleteil finden und sie  alle anschließend richtig zusammensetzen. Wir haben bereits einige Puzzleteile gefunden. Doch auch das fertige Puzzle wird meine Aufgabe hier noch nicht beenden. Dann habe ich erst die Hintergrundinformationen, die ich benötige, um ein eigenständiges, funktionierendes Puzzle zu erschaffen. - Hast du schon einmal ein Puzzle gemacht, Freya? Eines, mit unzählig vielen, kleinen Teilen? Dann müsstest du wissen, dass jeder Anfang schwer ist. Aber wenn man diesen hat, kommt man schneller voran." Der Doktor schenkte mir ein gutmütiges Lächeln. Seine Augen jedoch funkelten gefährlich. „Wir brauchen zu aller erst eine Orientierung. Schließlich will ich nicht blind anfangen, Substanzen zu entwickeln und zu hoffen, dass diese funktionieren. Das willst du doch auch nicht.", sagte Clauson mit einer sanften Stimme, als würde er einem sturen Kind etwas erklären. Außerdem spielte er mit seiner Aussage auf Ambrosia an. Für mich war klar, dass er mir damit eins auswischen wollte. Zudem wollte er mir deutlich machen, dass er auf einem höheren Niveau als Ambrosia war, auch wenn es mir schien, als würde er Ambrosia bewundern. Immerhin war ihnen etwas gelungen, was noch nie einem Wissenschaftler zuvor gelungen war.

„Ihnen ist egal, was ich will.", erwiderte ich mit einer Tonlage, die selbst Königin Maria I. beunruhigt hätte. „Sie werden tun, was auch immer Sie tun müssen, um an Ihr Ziel zu kommen. Außerdem werden auch Sie Substanzen entwickeln und hoffen, dass diese die gewünschte Wirkung haben, denn ohne eine Substanz schon einmal getestet zu haben, werden Sie nicht mit Sicherheit sagen können, dass sie wirkt. Also hören Sie damit auf, mich überzeugen zu wollen, dass sie nur mein Bestes wollen und dass sie besser als Ambrosia seien. Denn das sind Sie nicht." Doktor Clausen wollte mich mit ernster Miene unterbrechen, doch ich gab ihm gar nicht erst die Gelegenheit. Ohne auf seinen gekränkten Gesichtsausdruck zu achten, fuhr ich fort: „Ich mag vielleicht nicht besonders lange in der Schule gewesen sein, aber dumm bin ich nicht. Ich bin sehr wohl in der Lage skeptisch und rational zu urteilen. Und das, was sie mir einzureden versuchen, entspricht nicht ihren wahren Absichten." Unbeugsam stand ich vor Doktor Clausen. „Im Gegensatz zu meinem Bruder erkenne ich, wenn jemand ein falsches Spiel spielt."

Doktor Clausen lachte. Doch er konnte seine Nervosität nicht verbergen. Nicht vor mir. Ich war ein Raubtier. Das war ich wirklich. Und genauso musterte ich den Doktor jetzt. Im Vergleich zu mir war er nichts weiter als eine Ratte. Das einzige, das ihn momentan vor mir und meinem Zorn schützte, war die durchsichtige Gefängniszelle. Ganz bestimmt würde ich hier nicht mein restliches Leben verbringen. Irgendwann würde ich hier raus kommen. Und dann war Julius Clausen mir vollkommen ausgeliefert. Das wusste er genauso gut wie ich.

„Ich habe niemals behauptet, dass du nicht schlau wärst, meine Liebe.", entgegnete Clausen. Mir entging nicht, dass er sich sichtlich unwohl fühlte. „Deine Vorsicht ist gut begründet. – Vor allem nachdem, was dir bei Ambrosia widerfahren ist. Doch die vergangenen Ereignisse verbieten es dir, dich auf andere einzulassen und ihnen zuvertrauen. Dein Bruder hat erkannt, dass ich dir nichts Böses will. Im Gegenteil. Ich will dazu beitragen, dass du – und alle anderen, die Betroffen sind – wieder in der Lage sind, ein normales Leben zu führen." Sein strahlendes Lächeln wirkte viel zu übertrieben. Clausen ließ nach. Er wirkte viel falscher als noch am Anfang.

„Mein Bruder ist geblendet.", widersprach ich gnadenlos. „Er trauert einer Vergangenheit hinterher, die niemals zur Gegenwart werden kann. Und selbst, wenn ihr es schaffen solltet – falls das überhaupt das Ziel ist – mich wieder zu einem Menschen zu machen, verliert Lucius mich auf eine Weise, die schlimmer wäre als der Tod. Erkennt er nicht, dass er nur verlieren kann?" Forschend betrachtete ich Clausen. Achtete auf jede kleinste Veränderung in seinem Gesicht. Da war keine. Clausen hatte sich vollkommen unter Kontrolle.

Jedoch ignorierte er meinen Satz, dass mein Bruder geblendet sei, vollkommen. „Lucius wünscht sich natürlich, dass du wieder ein Mensch bist. Und das aus mehreren Gründen.", sagte Clausen ruhig, doch er konnte seien Anspannung nicht verstecken. „Ihr habt einander verloren, als ihr beide noch sehr jung gewesen seid. Das war ein schwerer Schicksalsschlag. - Für euch beide. - Versetze dich doch nur mal in seine Lage, Freya! Dein Bruder hat geglaubt, du seist von Mutanten getötet worden! Und dann sieht er dich viele Jahre später wieder und du bist selbst eine Mutantin. Dabei ist es ganz selbstverständlich, dass er geschockt ist, zumal Mutationen alles andere als menschlich sind. Geh bitte einmal ganz tief in dich. Wenn du könntest, würdest du zu dem Tag zurückreisen, an dem sich euer Leben verändert hat und verhindern, dass es geschieht?" Eingehend betrachtete Clausen mich. Das war ein gut überlegter Zug. Natürlich würde ich es verhindern, wenn ich es könnte. Aber ich konnte es nicht. Und genau das war der Punkt. Es war passiert und wir mussten damit leben. Wir alle. Im Gegensatz zu Lucius konnte ich das. Ich hatte akzeptiert, was geschehen war und hatte akzeptiert, wer – was– ich war.

„Natürlich waren die letzten Jahre extrem schwer." Ich hatte auch nie etwas anderes behauptet. Vor allem nicht ich. „Aber darum geht es nicht. Sie kommen nicht auf den Punkt. Es geht nicht darum, mich zu überzeugen, mit Ihnen zu kooperieren. Es geht auch nicht um die Beweggründe meines Bruders. Es geht allein um ihre falschen Absichten. Darum, dass Sie nicht der sind, für den mein Bruder Sie hält. Ob er jemals erkennen wird, dass Sie allein für Ihre eigenen Ziele arbeiten, weiß ich nicht. Aber das ist nur nebensächlich. So lange ich weiß, dass Sie nicht sagen, was Sie wirklich vorhaben, reicht mir das. Ebenso weiß ich mit Sicherheit, dass Sie alles andere als der Gute in diesem Spiel sind. Sie verfolgen Absichten, die weder für die Mutanten, noch für die Menschen gut sind."

„Ich gehe mal nicht davon aus, dass du Gedankenlesen kannst.", versuchteClausen es betont gelassen.

Ein grausames Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und ließ meine tödlichen Eckzähne zum Vorschein kommen. „Das brauche ich gar nicht."

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now