Kapitel 112

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Zögerlich legten sich plötzlich seine Arme um mich. Dann wurde seine Umarmung fester. Wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz presste er mich an sich. Sein Körper bebte und erst da begriff ich, dass er weinte.

Mir tat alles weh. Vor allem mein Rücken brannte wie Höllenfeuer, als Lucius begann, meine Umarmung zu erwidern und mich so verzweifelt an sich zu pressen. Doch ich ertrug es. Schweigend nahm ich die Qualen hin. Ich wusste nicht wieso oder für wie lange, aber mein Bruder war wieder da. Diesen Moment wollte ich mir nicht von den Schmerzen stehlen lassen.

Das erste Schluchzen entschlüpfte Lucius' Kehle. Das Weinen erschütterte immer wieder seinen Körper. Unaufhörlich flossen die Tränen und das zeigte mir, dass er sich erinnerte. Er erinnerte sich an alles, was er getan hatte. Das war eine schlimmere Bestrafung als alles, was ich mir hätte ausdenken können, als er mich verraten hatte. Das hatte er nicht verdient. Außerdem war es nicht er gewesen, der James und Enya getötet hatte. Nicht wirklich. Zumindest das war nicht seine Schuld.

Schweigend ließ ich ihn weinen. Jetzt konnte ich nur für ihn da sein. Es brachte nichts, ihn zu trösten und zu sagen, dass es okay sei. Dass alles wieder gut werden würde. Denn das würde es nicht. Nicht für ihn.

Lucius bat nicht um Verzeihung. Er wusste vermutlich selbst, dass er niemals Vergebung finden würde.

Hinter meinem Bruder nahm ich wahr, wie sich eine weitere Gestalt näherte. Doch schnell bemerkte ich, dass es sich bei ihr weder um Miss Magpie noch um Samuel handelte. Es war Kieran, der sich näherte. Sein Blick glitt zuerst zu James' Leiche. Nichts in seinem Gesicht gab Ausschluss darüber, was er dachte. Dann nähere er sich uns, erkannte jedoch, dass derzeit keine Gefahr von Lucius ausging. Dann blieb er stehen, ließ uns unsere Privatsphäre.

»Was habe ich getan?«, hauchte Lucius. Seine Stimme zitterte unkontrolliert. Und wieder: »Was habe ich getan?« Seine Tränen durchnässten mein Haar und er presste mich fester an sich. Mit aller Kraft unterdrückte ich einen Schmerzensschrei. Es war unglaublich, dass er all das Blut an meinem Rücken nicht bemerkte. Schließlich müssten auch seine Hände jetzt voll davon sein.

Die Kraft versagte ihm und er sank verzweifelt zu Boden. Ich folgte ihm. Es gab nichts, das ich für ihn tun konnte. Nichts, um seinen Schmerz zu lindern. Alles, was ich tun konnte, war jetzt für ihn da zu sein.

Zum ersten Mal, seit er wieder zu sich gekommen war, sah er mich an. Mit Schrecken fiel sein Blick auf meinen blutverschmierten Hals. Er sah die Wunden, die seine Krallen hinterlassen hatten. Seine Augen weiteten sich entsetzt. »Freya ...!«, keuchte mein Zwilling. Die Schuld stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Langsam, als habe er Angst vor dem, was er sehen würde, löste er seine Hände von meinem Rücken, entließ mich aus seiner verzweifelten Umarmung. Als er all das Blut sah, das seine dunklen Schuppen rot färbte, zitterten seine Hände unkontrolliert. »Das wollte ich nicht!«, stammelte er. »Das habe ich nie gewollt!«

»Ich weiß.« Meine Stimme klang müde und leise. Resigniert. Eigentlich hatte ich gewollt, dass sie stärker klang. Das war mir wohl misslungen.

Ungläubig starrte er auf mein Blut, ehe sein Blick auf seine Krallen und seine Schuppen fiel. Die aufkommende Panik raubte ihm den Atem. Er begann zu hyperventilieren. Schnappend atmete er und sah dennoch aus, als würde er ersticken.

»I-Ich ...«, krächzte er.

»Du bist ein Mutant.«, sagte ich ruhig. »Wie ich.«

»A-Aber ...!«

»Ganz ruhig, Luc. Atme.«

Lucius beruhigte sich nicht. »Ich habe James ermordet!« Sobald er die Worte ausgesprochen hatte, schoss sein Blick zu der Leiche seines besten Freundes. Schlagartig erbleichte er. Der Ausdruck in den Augen meines Bruder tat weh. All der Schmerz spiegelte sich in ihnen, all der Unglaube, die Fassungslosigkeit und die Schuld. Mein Zwilling war vollkommen zerstört. Plötzlich beugte er sich zur Seite und übergab sich. Prustend hing er über dem Boden.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt