Kapitel 80.2

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Varya hielt den Blickkontakt. Ich wusste nicht was es war, aber irgendetwas hatte ihr Interesse geweckt.

„Ich bin immer auf irgendeine Weise eingesperrt.", sagte ich. Meine Augen nahm ich nicht von Varya. Mir sollte nichts entgehen. „Seit meiner Mutation kann ich nicht mehr frei sein. Und ich weiß nicht, ob sich das jemals wieder ändern wird. Dafür müssten die Menschen uns als Lebewesen wie sie akzeptieren und auch, dass wir genau wie sie Rechte haben. Doch selbst wenn das jemals durchgesetzt werden kann, müssen Menschen uns nicht nur dulden, sondern auch so behandeln, als seien wir wie Ihresgleichen." Ob das jemals passieren würde war fraglich.

„Wusstest du, dass manche Mutanten, nachdem die Ambrosia Labore zerstört wurden, zurück zu ihren Familien gingen und von ihnen wie Monster behandelt wurden? Manche Kinder wurden von ihren eigenen Familienmitgliedern aus Angst erschossen.", sagte ich. „Selbst wenn es mir irgendwann möglich ist, nach Hause zurückzukehren, werde ich das nicht tun.Ich möchte nicht in das Gesicht meines Vaters blicken und erkennen, dass er nur eine Fremde, ein Monster vor sich sieht."

Varya ließ ihre Zeitung sinken. Kaum merklich zogen sich ihre Augenbrauen zusammen und sie runzelte ihre Stirn. Erst jetzt bemerkte ich die Gestalt, die im Türrahmen stand. Ich hatte mich so sehr auf Varya konzentriert, dass ich nicht einmal sagen konnte, wie lange Lucius schon dort stand. Allerdings wollte ich mir auch nicht anmerken lassen, dass ich ihn bemerkt hatte. Jetzt bot sich der perfekte Zeitpunkt, um ihm ein für alle mal deutlich zu machen, was ich wollte und was meine Beweggründe waren.

„Aber ich möchte trotzdem kein Mensch sein.", fuhr ich fort. „Auch, wenn dann alles für mich einfacher werden könnte. Dafür gibt es drei Gründe. Der erste ist wohl der Offensichtlichste. Schon einmal war ich in einem Labor gefangen und Experimenten ausgesetzt. Das möchte ich nicht noch einmal. Egal, worum es dieses mal dabei geht. Den dritten Grund kann man wahrscheinlich auch gut nachvollziehen. Würde man mich wieder zu einem Menschen machen, bin ich vollkommen sinnlos durch die Hölle gegangen. Ich hätte für Nichts gelitten. Und es ist egal, wie schlecht meine Chancen auf ein relativ ruhiges Leben stehen, denn das, was ich heute bin zeigt, was ich überlebt habe, was ich durchstehen musste. Es hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin." Ich machte eine kurze Pause. Lucius hatte sich noch nicht einen Millimeter bewegt. Wahrscheinlich glaubte er, ich hätte ihn noch nicht bemerkt. Er unterschätzte mich. Varya hatte sich ein wenig nach vorne gebeugt, während sie mich aufmerksam ansah. „Das waren zwei meiner Gründe bleiben zu wollen, was ich bin.", sagte ich und ein leichtes Lächeln zierte meine Lippen. „Doch der ausschlaggebende Grund ist wohl der Letzte. Wenn ich nach draußen blicke und sehe, was aus den Menschen geworden ist, widert mich an, was ich zu Gesicht bekomme. Da bin ich lieber ein geächteter Mutant, als ein Mensch."

Mittlerweile stand Lucius wie festgefroren an Ort und Stelle. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sollte er sich meine Worte nur durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht würde er erkennen, was er da zusammen mit Doktor Clausen zu tun versuchte. Und wer konnte schon wissen, wie viel er eigentlich mitgehört hatte.

Schweigend betrachtete Varya mich. Irgendeine Art von Emotion huschte über ihr schmales Gesicht. Sie wirkte nachdenklich. Womöglich hatte ich es geschafft sie zu erreichen. Diesen Schritt schien ich geschafft zu haben. Nur was für ein Ausmaß nahm diese Veränderung in Varya an? Reichte es, um sie auf meine Seite zu ziehen? Im Gegensatz zu ihrem Verhalten sonst, erschien mir das wie ein großer Schritt nach vorne. Aber wie es wirklich war, würde ich erst wissen, wenn es soweit war.

„Guten Tag, Freya!", rief plötzlich Clausen gut gelaunt, als er an Lucius vorbei durch die Tür eilte. „Heute ist wahrlich ein großer Tag für die Forschung!" Unter seinen Armen hatte er verschiedene Papiere und kleine Geräte geklemmt, während er in seinen Händen ein silbernes Tablett hielt, auf dem eine Spritze neben einer Ampulle lag, die mit einer grauen Substanz gefüllt war. Schlagartig sprang ich auf und presste meinen Rücken an die Wand. Nein! Wie konnte Clausen nur so schnell damit fertig geworden sein? Hatte er nicht gesagt, dass so etwas Jahre in Anspruch nehmen konnte? Weshalb also lag das Ergebnis seiner Forschungen an mir dann bereits fertig auf diesem Tablett?

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now