Kapitel 51

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Kapitel 51

Selbst Kieran starrte mich an, als ich mich zu ihnen gesellte. „Du ... unglaublich!", hauchte er. Langsam verschwanden die Schuppen wieder und ich spürte, wie meine Augen wieder normal wurden und meine Eckzähne zu schrumpfen begannen. Ich reagierte darauf nicht, sondern setzte mich einfach hin. Alle Blicke lagen auf mir. Spätestens jetzt hatte ich Lucius vollkommen verschreckt. Jetzt würde er mich niemals mehr als seine Schwester ansehen. Ich hatte ihnen offenbart, was ich war. Wer ich war. Zu was ich geworden war. Sie alle würden Angst vor mir haben. Sie würden mich fürchten. Lucius würde mich hassen, verabscheuen. Aber hätte ich es nicht getan, wären er und seine Jäger jetzt tot. Da nahm ich die Konsequenzen gerne in Kauf. So sehr Lucius mich auch hassen mochte, ich hatte das lieber, als dass er tot war. Und dafür hatte ich einen Mutanten verletzt, einen leicht vergiftet und neun dazu gebracht, vor mir davon zu laufen. Und deswegen fühlte ich mich schlecht. Ich hatte meine eigene Art verraten. Ich hatte mich gegen meine eigenen Leute gestellt. Und diese Mutanten hatten die Jäger zum Gejagten gemacht. Wären das irgendwelche Jäger gewesen, hätte ich sie nur zu gerne machen lassen und ihnen sogar noch gedankt. Doch bei diesen Jägern ... Ich hatte nicht einmal wirklich nachgedacht, bei dem, was ich tat. Ich hatte nur gesehen, dass mein Bruder, James und die anderen sterben würden, würde ich es nicht tun.

Liam ließ sich neben mich fallen. „Ich verstehe das.", sagte er. „Ich verstehe, warum du das gemacht hast." Er warf mir nichts vor. Das beruhigte mich. Blieb nur noch Kieran. Der starrte mich noch immer an. War das etwas Faszination in seinem Blick? Ja, ja, war es. Es überraschte mich. Doch das bedeutete auch, dass er mir nichts vorwerfen würde. „Davon muss keiner Erfahren.", sagte Kieran nur, ehe er sich genau wie Liam zuvor neben mir fallen ließ und wir alle zu den Jägern sahen, die sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hatten. Mikéle war der erste, der sich aus seiner Starre befreite und etwas sagte. „Darum also ... Darum wird 93 also als so gefährlich bezeichnet ...", sagte er leise, während er mich anstarrte. Er schluckte. „Jetzt habe ich wohl niemals mehr eine Chance gegen dich." Mikéle wusste wahrscheinlich überhaupt nicht, was er mit dieser Aussage in mir auslöste. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Er hatte auf damals angespielt. Und das wiederum bedeutete, dass er im Gegensatz zu Lucius glaubte, dass ich Freya war. Während ich Mikéle wegen seiner Aussage anlächelte, hatte mein Bruder sich angespannt und hatte seinen Blick abgewandt. Auch er hatte diese Anspielung verstanden. Er lief auf sein Zelt zu und begann dieses abzubauen. „Wir sollten weiterziehen.", sagte er tonlos. „Nicht, dass noch mehr von ihnen in der Nähe sind." Sofort hörte ich aufmerksam zu und auch Kieran und Liam hatten ihre Aufmerksamkeit auf meinen Bruder gerichtet. Mikéle stellte die entscheidende Frage. „Aber was machen wir mit ihnen?", wollte er wissen und deutete auf uns. Lucius sah uns nicht an. Er blickte nicht einmal in unsere Richtung. „Wir können sie nicht gehen lassen.", meinte Lucius und stopfte eine Sammlung von Messern in seinem Rucksack. „Nicht, nachdem wir gesehen haben, zu was sie fähig sind." Lucius vermied es, nur auf mich bezogen zu sprechen. Mikéle warf mir einen kurzen Seitenblick zu. „Aber ... Du hast auch gesehen, dass wir sie nicht einfach gefangen halten können.", sagte er vorsichtig. Das „Weil sie sich einfach selbst befreien können" sprach er nicht aus. Doch dieser Satz schwebte unausgesprochen zwischen Mikéle und Lucius umher. Lucius ließ von seinem Rucksack ab und wandte sich wütend zu Mikéle. „Hast du mich etwa nicht verstanden? Soll ich wiederholen, was ich gesagt habe?" Es klang wie eine stille Drohung. „Sie kommen mit.", fügte Lucius mit Nachdruck hinzu. „Wir können es uns nicht leisten, sie gehen zu lassen." Lucius begann in einem weiteren Rucksack zu kramen und zog metallene, schwere Fesseln heraus und warf sie Mikéle zu. „Sieh zu, dass sie nicht abhauen." Wortlos ließ mein Bruder Mikéle stehen. Dieser starrte ihm entgeistert hinterher. „Kann es sein, dass dein Bruder nicht zugeben will, dass er dich nicht gerne gehen lassen würde?", fragte Kieran mich beiläufig, während er ein Stück von dem vereisten und zersplitterten Käfig beiseite kickte. Ich presste meine Lippen fest aufeinander. „Er glaubt mir nicht, dass ich ich bin." Und ich wünschte, ich hätte ihn niemals wieder getroffen. Es hätte so vieles einfacher gemacht, wenn wir einfach unser Leben weiter gelebt hätten und einander nie wieder gesehen hätten. Wäre er doch niemals im Garten aufgetaucht. So vieles wäre uns erspart geblieben. Kieran sah mitfühlend zu mir und ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Irgendwann.", sagte er. „Irgendwann wird er es verstehen." Sein Lächeln erlosch, als er Mikéle auf uns zukommen sah und er setzte eine finstere Miene auf. „Willst du es wirklich wagen, uns zu fesseln?", spottete Kieran und grinste eines dieser herausfordernden Grinsen. Mikéles Lippen wurden zu einem schmalen Strich und ich stieß Kieran meinen Ellenbogen in die Seite. „Lass es.", sagte ich. Kieran sah mich böse an. „Was? Darf ich nicht einmal mehr meinen Spaß haben?" Ich verdrehte grinsend meine Augen. Kieran war schon ein Fall für sich. Nun kam Mikéle vorsichtig näher. „Ihr habt Lucius gehört.", sagte er und trat noch einen Schritt näher, doch Liam knurrte ihn an. „Hey!", rief ich und dafür kassierte er wie Kieran zuvor einen Schlag in die Seite. Liam sagte keinen Ton, begnügte sich damit, Mikéle mit einem bösen Blick zu durchbohren. Mikéle schien nicht zu wissen, auf wen von uns er als erstes zugehen sollten. Nachdem Kieran mir einen kurzen Seitenblick zugeworfen hatte, seufzte er und trat einen Schritt auf Mikéle zu. Überrascht starrte Mikéle Kieran an, der ihm ohne einen Ton zu sagen, seine Hände entgegen hielt. „Nun mach schon, ehe ich es mir anders überlege!", fuhr Kieran ihn an, als es ihm dann doch zu lange dauerte. Schnell machte Mikéle sich daran, Kierans Hände aneinander zu fesseln, da die Kette ziemlich lang war, ging er nun damit auch vorsichtig auf mich zu. Er ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Ich bemerkte seine Unsicherheit und so streckte auch ich ihm wortlos meine Hände entgegen. Bemüht vorsichtig zu sein, fesselte Mikéle sie aneinander. Die metallene Kette presste sich kühl an meine Handgelenke und zwang sie, zusammen zu bleiben. „Ich weiß, dass du Freya bist.", flüsterte er auf einmal und kurz huschten seine Augen zu meinen. „Ich wollte das nur einmal gesagt haben." Schnell wandte er sich von mir ab und ging auf einen grimmigen Liam zu, der so aussah, als würde er Mikéle gleich in viele kleine Stückchen zerteilen wollen. Geschickt hatte Mikéle auch seine Hände im Handumdrehen gefesselt und trat einen Schritt zurück. Kieran, Liam und ich hingen alle an der selben Kette. Super. Das würde ein langer Marsch werden.

„Bewegt euch!", rief Lucius über den Platz und ich bemerkte erst jetzt, dass die Jäger alles zusammengepackt hatten und Abreise bereit auf uns warteten. Kieran, Liam und ich liefen in einer Reihe hintereinander her. Alle Jäger liefen vor uns, bis auf Mikéle, der wurde von Lucius dazu verdonnert, hinter uns zu laufen und aufzupassen, dass wir nicht zu flüchten versuchten. Als ob uns das etwas bringen würde. Doch Mikéle schien es nichts auszumachen. Still ärgerte er sich über meinen Bruder, doch fügte sich seiner Aufgabe und meckerte nicht weiter herum. Wir waren gerade erst losgelaufen und schon jetzt lag eine aufgeladene Spannung in der Luft. Niemand redete. Lucius blickte finster nach vorne, während die anderen gelangweilt umher sahen. Keiner wagte es die drückende Stille zu brechen. Das konnte noch lustig werden. Es war keine angenehme Atmosphäre. Plötzlich blieb Lucius stehen und sogleich taten es ihm die anderen Jäger gleich. Ich erstarrte. Scheiße. Weshalb hatte ich das denn nicht früher bemerkt? Es war still im Wald. Kein Vogel sang. Selbst der Wind schwieg. Doch dann hörte ich es. Schritte. Schwere Schritte. Lucius fluchte. Hektisch drehte er sich zu seinen Leuten um. „Schnell! Versteckt euch und seid still!" Die Jäger verschwanden in einem Gebüsch und Mikéle griff nach unserer Kette. Mit einem Ruck zog er uns hinter einen großen Dornenbusch und legte seinen Zeigefinger an seine Lippen. Hätte er eine Sekunde zu spät reagiert, wären wir vielleicht entdeckt worden. Kieran nahm sofort die Farben des Waldes an. Schwarz uniformierte Männer kamen zwischen den Bäumen hervor. Jeder von ihnen hielt eine Waffe in der Hand. Wut kam in mir auf. Lodernde Wut. Es war ihre Schuld. Ihre Schuld, dass unser Haus abgebrannt war. Ihre Schuld, dass Audra verhaftet wurde und es war verdammt noch mal ihre Schuld, dass Aldric gestorben war! Und jetzt suchten sie nach uns. Ich wollte diese Männer büßen lassen für das was sie getan hatten und das, was sie alles davor taten. Wir waren bestimmt nicht die ersten Mutanten, nach denen sie suchten. Sie wollten uns töten, doch dazu würde es nicht kommen. Zuerst mussten sie daran glauben. Liam warf mir einen warnenden Blick zu. Er spürte meine Wut und wollte mich davon abhalten irgendetwas Unüberlegtes zu tun. Mir blieb also nichts anderes übrig, als meine aufkommende Wut hinunter zu schlucken.

Die Männer trugen alle Waffen bei sich, die sie schussbereit in den Händen hielten. Aufmerksam sahen sie sich um. Sie wussten nicht, dass sie uns eigentlich schon gefunden hatten. Ich wagte es kaum zu atmen. Mein Herz pochte wie wild. Das würde nicht das Ende sein. Nicht jetzt.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now