Kapitel 94.3

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„Zweihunderteins.", sagte er. Seine Stimme war tonlos.

„Und dein Name?", harkte ich nach. Kurz glaubte ich, ein Zucken in seiner Gesichtsmuskulatur zu sehen, doch ich hätte es mir auch eingebildet haben können. Vollkommen ausdruckslos sah er mich an. Irgendwie erinnerte er mich mehr an eine Maschine als an ein lebendiges Wesen.

„Ich habe keinen Namen.", kam die Antwort. Darauf wollte ich schon etwas erwidern, als ich innehielt. Siebenundvierzig hatte etwas Ähnliches gesagt. Außerdem hatte sie darauf bestanden, dass wir sie bei ihrer Nummer nannten.

„Wieso jagst du Mutanten?" Diese Frage hatte ich mir schon gestellt, sobald Lucius mir erzählt hatte, was sie taten. Ob er überhaupt eine Antwort darauf hatte, würde ich gleich sehen. Ob mir diese Antwort allerdings gefallen würde, war eine ganz andere Frage.

„Du bist Dreiundneunzig.", sagte der Fledermausmutant. „Deinetwegen sind unsere Leben ruiniert." Er sagte das ohne jegliche Gefühle. Doch nicht das war es, was mich innehalten ließ. Sondern das, was er da sagte. „Wir alle hätten im Labor sterben sollen. Du hast unser Leiden verlängert." Aufgrund seiner Worte musste ich schlucken. Entsetzt sah ich ihn an. Mein Herz machte einen erschrockenen Hüpfer. Tatsächlich dachte ich manchmal ähnlich. Besonders oft hatte ich das gedacht, als wir gerade erst aus dem Ambrosia-Gebäude geflohen waren und die Menschen von unserer Existenz erfuhren. Doch dass er mir das so einfach ins Gesicht sagte, dass er es überhaupt aussprach, war wie ein Schlag in die Magengrube.

Enya und Samuel hatten mir gedankt, dass ich damals für die Befreiung der Mutanten verantwortlich gewesen war. Aber dieser Junge ... Er dachte genau gegensätzlich. Er machte mich für sein Leid und das Leid vieler anderer verantwortlich. Und ich konnte ihm das noch nicht einmal wirklich verübeln.

„Um ein besseres Leben zu haben, als viele andere Mutanten, arbeiten wir für die Regierung. Wir haben mehr Rechte. Wir haben ein Zuhause." Das sagte er so, als würde es ihn gar nicht interessieren. Als würde es ihm egal sein, ob er nun mehr Rechte als wir hatten und ein Zuhause, zu dem er zurückkehren konnte. Doch obwohl es ihm egal zu sein schien, arbeitete er gegen seinesgleichen, nur um all das zu haben. Vielleicht waren dies seine Wünsche, bevor er sich entschlossen hatte, seine Gefühle abzuschalten. Plötzlich tat er mir leid.

„Freya, wo bleibst du?" Ungeduldig stand mein Bruder an unserem schäbigen Wagen. Zögerlich wandte ich mich von Zweihunderteins ab. Es kam mir falsch vor, ihn hier einfach zurückzulassen. Außerdem wollte ich hören, was er zu sagen hatte. Dennoch ging ich zu Lucius. Wir sollten wirklich nicht länger als nötig hierbleiben. Zum einen, weil die Mutanten sich eventuell befreien konnten. Zum anderen, weil jemand innerhalb der Tankstelle die Polizei gerufen haben konnte. Einmal kurz drehte ich mich noch um und traf Zweihunderteins' Blick.

Nachdenklich trat Lucius einen Schritt von der Beifahrertür weg. „Ich denke, es wäre erst einmal doch besser, wenn ich fahre.", sagte er, wobei er zum Eisgefängnis sah. Knapp nickte ich. Wir hatten keine Zeit mehr, hier das Fahren zu üben.

Wir wollten beide gerade einsteigen, als Michelle mit zügigen Schritten auf uns zu kam. Unbehaglich strich sie über die silberne Armbanduhr, die sie am linken Handgelenk trug. „Unser Auto springt nicht an.", sagte sie besorgt. „Hättet ihr etwas dagegen, wenn wir für eine Weile bei euch mitfahren würden?"

„Wo wollt ihr denn hin?", wollte Lucius wissen. Schief lächelnd zuckte sie mit ihren Schultern. Sie waren auf der Flucht. Aber ohne ein Ziel zu haben. Vielleicht suchten sie nach einem Versteck.

Lucius seufzte. „Hierbleiben könnt ihr nicht. Also steigt ein." Erleichtert atmete Michelle aus. Eine große Last schien von ihren Schultern zu fallen.

„Vielen Dank! Ihr rettet uns heute bereits zum zweiten Mal!", sagte sie, drehte sich um und winkte ihre Familie herbei. Harlan nickte und zog einige Taschen aus dem Kofferraum seines Autos. Mit Gepäck beladen schloss er das Auto ab und kam auf uns zu. Sophia und Felix folgten ihm hastig.

„Danke.", sagte Harlan, als er bei uns angekommen war.

„Kein Problem.", meinte Lucius. Er half Harlan dabei, die Taschen im Kofferraum zu verstauen und schloss diesen anschließend wieder. Auf einmal erhellte sich seine Miene. „Ihr könnt beide Autofahren, oder?", richtete er sich an Harlan und Michelle. Beide warfen einander kurze Blicke zu.

„Ja.", sagten sie. Ihre Mienen sagten mir, dass sie eine gewisse Vorahnung hatten, weshalb Lucius sie das gefragt hatte.

„Wie alt seid ihr beide?", wollte Harlan mit ernster Stimme wissen.

„Siebzehn.", antwortete ich für Lucius und mich.

„Und ich gehe mal davon aus, dass keiner von euch in die Fahrschule geht.", riet Harlan. Wir beide nickten.

„Ich kann nicht so einfach eine Fahrschule betreten und Lucius ... hatte keine Zeit, dorthin zu gehen.", sagte ich, wobei ich nicht unbedingt darauf eingehen wollte, dass mein Bruder seine Zeit bisher als Jäger vertrieben hatte.

Fassungslos sah Michelle uns beide an. „Und ihr seid trotzdem gefahren?" Sie klang vorwurfsvoll.

„Eine andere Wahl hatten wir nicht.", erwiderte Lucius. Michelle sah so aus, als wollte sie uns ausschimpfen, doch als Harlan ihr seine Hand auf die Schulter legte, wurden ihre Gesichtszüge weicher.

„Ich verstehe.", murmelte sie. Einmal seufzte sie tief. „Na schön. Wenn ihr uns sagt, wo ihr hin wollt, fahren wir euch."

Zwiegespalten nickte mein Zwilling. Einerseits war er erleichtert, dass er nicht mehr fahren musste. Andererseits widerstrebte es ihm, den beiden unseren Zielort zu verraten. Er kannte keinen von beiden und wusste nicht, ob ihnen zu trauen war. Dass die Familie allerdings auf der Flucht war, ließ Lucius sein Misstrauen unterdrücken.

„Hier.", sagte ich und überreichte Harlan das Handy von Bill. Es gefiel mir überhaupt nicht, es wegzugeben. Aber er und Michelle brauchten es, um den Weg zu finden. Kurz betrachteten die beiden die digitale Karte mit dem eingegebenen Weg. „Ihr wollt nach Morvah.", stellte Harlan fest. Nachdenklich fuhr er sich mit der Hand durch das graue Haar. Von der Idee, nach Morvah zu fahren, schien er angetan zu sein. Michelle ebenso, wie mir ihr Blick verriet.

„Gut. Dann fahren wir.", sagte Harlan und lief auf die Fahrerseite zu.

„Hast du denn einen Führerschein?", wollte Lucius wissen.

Harlan blieb stehen und sah meinen Bruder an. Ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Vor dir steht wohl der einzige Mutant, der im Besitz eines Führerscheins ist.", sagte er und stieg ein. Lucius ließ sich neben ihm auf dem Beifahrersitz nieder. Michelle, ihre Kinder und ich setzten uns auf die Rückbank. Sie hatte einen Kindersitz aus ihrem eigenen Auto mitgebracht, den sie auf dem mittleren Platz anbrachte. Dort setzte sie den jüngeren Felix hinein. Sophia behielt sie auf ihrem Schoß.

Als wir uns angeschnallt hatten, startete Harlan den Motor, löste die Handbremse, legte den ersten Gang ein und fuhr los. 

Freya Winter - MutantDonde viven las historias. Descúbrelo ahora