Kapitel 77

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In der Nacht war es nicht gerade gemütlich. Ich hatte weder ein Kopfkissen, noch eine Decke. Geschweige denn, dass der Boden gemütlich war. Zudem erschwerte es mir die Tatsache, dass ich in einem Labor eingesperrt war, überhaupt einzuschlafen. Letztendlich versank ich zwar in einen leichten Halbschlaf, aber als wirklich erholsam würde ich ihn nicht bezeichnen. Durch diesen Halbschlaf bekam ich alles mit, das um mich herum passierte. Das war wahrscheinlich auch besser so, sollte Clausen sich dazu entscheiden, sich heimlich an mich heranzuschleichen, damit er mich für seine Experimente missbrauchen konnte.

Leise Schritte, die sich mir näherten, rissen mich ruckartig aus dem Halbschlaf. Sofort scannten meine Augen meine Umgebung ab. Obwohl es stockdunkel war, erkannte ich, dass sich jemand auf mich zubewegte. Die Körperhaltung verriet mir, dass die Gestalt nervös war. Vermutlich tat sie hier gerade etwas Verbotenes. Alarmiert setzte ich mich auf. Meine Augen ließ ich nicht von der Gestalt ab, die ich schnell als Lucius identifizierte. Dieser sah sich immer wieder zur Tür um und hielt inne, ehe er weiter schlich. Schließlich kam er aber bei mir an.

„Bist du wach?", flüsterte er, während er sich vor die Glaswand kniete, die mich zurückhielt. Am liebsten hätte ich ihm überhaupt nicht geantwortet. Sein Verrat saß tief. Doch ich ahnte, dass Lucius sich so leicht nicht abschütteln lassen würde.

„Ja.", knurrte ich. Lucius seufzte erleichtert aus. Er sah auf, suchte mich in der Dunkelheit hinter dem Glas. Ich gab ihm keinen Hinweis, wo ich mich genau befand. Das bemerkte er auch, doch er sagte dazu nichts. Wahrscheinlich konnte er sich denken, dass ich nicht mehr allzu gut auf ihn zu sprechen war.

„Freya, ich bin hier, um dir zu erklären, weshalb ich mich so entschieden habe.", fing Lucius flüsternd an. Allein für diesen Satz hätte ich ihn nur zu gerne aus dem Raum geworfen. Allerdings war ich dazu leider nicht im Stande. Wortlos wartete ich darauf, dass Lucius mit seiner Erklärung anfing und dann endlich wieder verschwand und mich allein ließ. Ohne ihn war ich sowieso besser dran. Lucius räusperte sich. „Du musst das verstehen." Er klang leicht verzweifelt. „Ich will dir nur helfen." Ja genau, wobei denn bitte? Woher wollte er wissen, dass ich das Selbe wollte, wie er? War er einfach davon ausgegangen, dass ich unterbewusst das Selbe wollte? Ich verspürte nicht mehr wirklich das Verlangen, wieder ein Mensch zu sein. Eigentlich so gut wie gar nicht. Die einzigen Situationen, in denen es mir unangenehm war, ein Mutant zu sein, war als ich Lucius nach so langer Zeit wieder gegenüber gestanden hatte. Nie hatte ich gewollt, dass die Menschen aus meinem alten Leben mich so sahen. Und ein Mutant zu sein, unter lauter Menschen, die einen nicht akzeptierten und fürchteten, war auch nicht gerade das Leben, das ich mir gewünscht hatte. Aber ein Mensch sein wollte ich auch nicht. Nicht mehr.

„Du weißt doch am Besten, wie Mutanten in unserer Gesellschaft leben müssen.", fuhr Lucius fort. „Ihr werdet unterdrückt, verachtet und seid indirekt die Feinde der Menschen." Meine Miene verdunkelte sich. Da kam wohl der Jäger in Lucius zum Vorschein. Mir brauchte er das alles nicht zu erklären. Außerdem versuchte er um den heißen Brei herum zu reden. Er sollte endlich auf den Punkt kommen. Je schneller er fertig war, desto eher ließ er mich in Ruhe. „Siehst du nicht die Möglichkeit, die sich hier bietet? Du könntest endlich wieder ein normales Leben führen!", sagte Lucius. Seine Stimme war lauter geworden. „Wir könnten nach Hause gehen. Niemand würde dich schräg ansehen. Niemand würde dich einschränken. Niemand würde dich töten wollen." Das war sie? Das sollte Lucius' Begründung gewesen sein? Nein. Das war nicht der Hauptgrund. Er hatte sich mit Doktor Clausen verbündet, weil er egoistisch war. Nichts weiter. Er brauchte mir hier keine Lügen zu erzählen. „Du könntest all das hinter dir lassen, Freya. Du könntest wieder normal sein. Alles wäre wieder wie damals." Na also. Da kamen wir dem wahren Grund etwas näher. „Als wäre nie etwas passiert. Du könntest diese schreckliche Episode deines Lebens endlich hinter dir lassen."

Seine Worte machten mich wütend. Wütender, als er es sich auch nur vorstellen konnte. Lucius kannte mich nicht. Auch wenn er das vielleicht glaubte. Keiner von uns war wie damals. Und keiner von uns würde es je wieder sein. Wieso verstand Lucius das nicht? Die Welt drehte sich weiter. Man konnte sie nicht anhalten und auch nicht zurück spulen. Wir alle entwickelten uns weiter. Der eine auf diese Art und der andere in die andere Richtung. Vielleicht blieben manche auf einer Linie, oder zumindest auf einer Ähnlichen. Doch Lucius' und mein Weg hatte sich vor langer Zeit getrennt und war in vollkommen verschiedene Richtungen verlaufen. Dass sie sich jemals wieder trafen, geschweige denn, nebeneinander verliefen, hatte er mit seiner Entscheidung endgültig zunichte gemacht. Ich versuchte gar nicht erst, Lucius zu erklären, weshalb ich nicht seiner Meinung war. Er würde das nur hoffnungsvoll auffassen und glauben, dass ich ein wenig nachgab und dass er eine Chance hatte. „Bitte Freya." Lucius klang so verzweifelt. „Bitte, stell dich nicht gegen Doktor Clausens Untersuchungen." Ach, „Untersuchungen" nannte er das? Das, was Clausen machte, waren nichts weiter, als Experimente! „Er will dir genauso sehr helfen, wie ich. Aber es wird um einiges schwerer, dir zu helfen, wenn du uns dir nicht helfen lässt." Wenigstens hatte er das verstanden. Ich wollte keine Hilfe. Schon gar nicht von Doktor Clausen, der ganz sicher nicht so selbstlos war und einfach nur „helfen" wollte. Weshalb verstand Lucius nicht, dass ich Clausen nicht vertrauen konnte und nicht wollte, dass ein weiteres mal an mir herumgepfuscht wurde? Weshalb konnte er nicht einfach akzeptieren, dass ich ein Mutant und damit zufrieden war? Schließlich erwartete ich doch auch nicht von ihm, dass etwas anderes als ein Mensch aus ihm wurde, obwohl er nichts anderes sein wollte. Lucius sollte mich nicht verändern wollen. Ich erwartete noch nicht einmal, dass er das, was ich war, unterstützte. Er sollte es einfach nur akzeptieren.

„Bitte, Freya! Du musst das doch auch wollen!", versuchte Lucius mich dazuzu bewegen, ihm zu zustimmen. „Vermisst du dein altes Leben denn gar nicht?" Das war eine gemeine Frage. Natürlich vermisste ich es. Aber das bedeutete nicht, dass ich mich dafür ändern wollte, um dort wieder hineinzupassen. Ich war ein Puzzleteil, dessen Form schon einmal verändert worden war, sodass es nicht in diese Art von Leben passte. Aber es noch einmal gewaltsam ändern lassen wollen, lag mir nicht im Sinn.

„Verschwinde.", sagte ich. Aus meiner Kehle drang ein tiefes Knurren. Unwillkürlich wich Lucius zurück. Sein Blick war so verzweifelt, dass es mir eigentlich leidtun sollte. Tat es aber nicht.

„Freya, bitte ...", flehte Lucius. „Bitte lass dir helfen." Er machte wieder einen vorsichtigen Schritt auf meine Zelle zu.

„Verschwinde.", wiederholte ich eisern. Lucius wollte einfach nicht verstehen. Er war so fixiert auf sich selbst und die Möglichkeit, die der Doktor ihm bot, dass er alles andere in den Hintergrund rücken ließ. Er wollte so sehr, dass ich ihm zustimmte, dass er bereit war, meinen eigenen Willen zu ignorieren oder zu verdrängen. „Jetzt verschwinde endlich, Lucius!" Ich hatte mich zornig erhoben. Meine Augen glühten in der Dunkelheit. „Verschwinde und wage es nicht, auch nur in meine Nähe zu kommen!" Erschrocken von dem aggressiven Ton meiner Stimme, der durch meine Erscheinung auch noch verstärkt wurde, wich Lucius hektisch zurück, warf mir einen letzten Blick zu und verließ das Labor.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now