Kapitel 77.2

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Von meinem Bruder sah ich bis zum Morgen nichts mehr. Dennoch war es für meinen Geschmack viel zu früh, als Lucius das Labor erneut betrat. Dieses mal gemeinsam mit Doktor Clausen. Ich hasste diesen Anblick. Nach wie vor traf mich Lucius' Verrat zutiefst. Obwohl ich seine Beweggründe verstehen konnte, stäubte sich alles in mir, Lucius zu verzeihen. Außerdem wusste er genau, was mir in einem Labor wie diesem passiert war.

„Guten Morgen, Freya!", grüßte Clausen überschwänglich, kaum hatte erden Raum betreten. Wie konnte Lucius ihm vertrauen? Sah diese Person für ihn vielleicht vertrauenswürdig und aufrichtig aus? Lucius war geblendet.

Wortlos sah ich den Doktor an. Lucius schwieg ebenfalls. Er konnte mich noch nicht einmal ansehen. Innerlich wusste er, dass das, was er tat, falsch war. Furchtbar falsch. Hoffentlich würde er das sehr bald bemerken.

„Na, na. Wollt ihr beiden einander nicht einen guten Morgen wünschen?", fragte Clausen mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Seine Zähne waren blütenweiß. Kopfschüttelnd betrachtete er uns. „Meine liebe Freya, dein Bruder möchte dir doch nur helfen. So abweisend solltest du ihn nicht behandeln. Immerhin will er dein Bestes.", meinte Clausen mit seinem leuchtenden Lächeln. „Und du, Lucius. Sei nicht so zurückhaltend, nur weil deine Schwester deine Hilfsbereitschaft nicht zu schätzen weiß. Eines Tages wird sie dir hierfür danken." Am liebsten hätte ich Doktor Clausen angeknurrt. Doch ich konnte mich noch gerade so zurückhalten.

„Wie dem auch sei.", fuhr Clausen fort und wendete sich von uns beiden ab. „ - Varya, komm her." Seine Assistentin, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, stand neben der Tür. Nun kam sie mit ausdrucksloser Miene auf den Doktor zu. „Hast du die Ergebnisse der Proben dabei?" Clausen nickte. „Perfekt." Mit hochgezogenen Mundwinkeln nahm er Varya die Papiere aus den Händen. Kurz überflog er diese und legte sie dann auf den Tisch neben sich. Doktor Clausen öffnete eine der Schubladen unter dem Tisch und zog einen Pappordner heraus. Mit einem Klicken zog er seinen Kugelschreiber aus der Tasche seines Kittels. Hastig schrieb er meinen Namen darauf und schob die Papiere anschließend in den Pappordner. „Sehr gut." Er richtete sich wieder auf.

Während der Doktor noch ein wenig durch das Labor wuselte, stand Lucius nach wie vor an Ort und Stelle. Er hatte sich keinen Millimeter fort bewegt. Er fühlte sich total unwohl. Doch ich hatte nicht vor, es ihm leichter zu machen. Lucius war auf der Seite des Doktors. Mit dieser Entscheidung hatte er alles kaputt gemacht. Wir hatten uns gerade erst wiedergefunden. Wir hatten uns gerade erst wieder zu verstehen begonnen. Tatsächlich hatte ich geglaubt, Lucius würde mich akzeptieren, wie ich mittlerweile war. Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass er das alles einfach so hinnehmen würde. Es würde seine Zeit brauchen. Doch dass Lucius mein jetziges Ich scheinbar gar nicht akzeptieren konnte ... Daran hatte ich, seit dem er für mich seine Haare gefärbt und die Kontaktlinsengetragen hatte, gar nicht gedacht. Für mich war das ein klares Zeichen gewesen, dass er mit meiner Mutation klar kam. Oder es zumindest versuchte.

Nach demDoktor Clausen damit fertig war, im Labor umher zu laufen und irgendwelche Geräte anzufassen, drehte er sich zu Lucius und Varya um. „Dank der Ergebnisse der Analyse von Freyas Proben, haben wir den Grundstein für die Erforschung von Mutationen.", sagte Clausen. Dabei klang er ganz aufgeregt. „Wir sind an etwas wirklich Großem dran!" Doktor Clausen wandte sich wieder ab und ging auf eine waagerechte, blickdichte Röhre zu, vor der ein Monitor stand. Diesen schaltete er ein. Beinahe sofort erschienen undefinierbare Begriffe und Wörter, die aussahen, als seien sie aus wahllos aneinander gereihten Buchstaben geformt.

Plötzlich packte Clausen einen Griff, der aus der Röhre heraus schaute und zog ihn mit einem Ruck heraus. Gefolgt wurde der Griff von einer Art Liege. Kaum sah ich sie, hätte ich mich am liebsten in einer Höhle verkrochen. Ein Glaskasten war dabei nicht ganz so praktisch.

„Dann wollen wir mal.", meinte Doktor Clausen enthusiastisch. Er drehte sich zu mir um. „Varya, bring sie her." Mit einer Maske von Gesicht trat Varya vor mich. Ihr Blick lag auf den Handschellen und dem Maulkorb. Beides lag in der linken Ecke auf dem Boden. Widerwillig schloss ich den Maulkorb um meinen Kopf und machte mir die Handschellen dran. Obwohl ... würde Doktor Clausen noch einmal wehtun, wenn ich nicht gehorchte? Lucius stand ja nun auf seiner Seite. Da mir dieser Gedanke leider eine Sekunde zu spät gekommen war, konnte ich es jetzt nicht mehr ändern.  Aber da ich höchstwahrscheinlich auch in den nächsten Tagen nicht hier rauskam, hatte ich noch genug Gelegenheiten es auszuprobieren.

Kaum hatte sich meine Zelle geöffnet, packte mich Varya mit ihrem festen Griff und zerrte mich unsanft zu der Röhre. Ich hasste Röhren. Egal ob die waagerecht standen und blickdicht, oder senkrecht aufgestellt und durchsichtig waren. Und wieder kam in mir die selbe Frage auf, wie so oft in den letzten Stunden: Weshalb tat Lucius mir das an? Er war doch auch einmal in den Laboren von Ambrosia gewesen. Er wusste, was man mir dort angetan hatte.

Oder sollte das hier ein schwacher Versuch sein, uns beide hier unbeschadet herauszubringen? Wenn das so sein sollte, war das ziemlich undurchdacht. Und die Erfolgschancen waren nicht gerade hoch. Schließlich konnte Clausen davon ausgehen, dass Lucius ihm nur half, um uns beide zu retten. Jedoch sprach Lucius' Ausdruck, als Clausen ihm erklärt hatte, was er hier versuchte, dagegen. Lucius hatte sehnsüchtig auf die Gelegenheit gewartet, seine menschliche Schwester wiederzubekommen. Scheinbar war ihm jedes Mittel recht. Es war naiv von mir, zu hoffen. Dennoch war ein kleiner Funken Hoffnung vorhanden. Er durfte nur nicht zu einem Feuer werden.

„Bitte leg dich dort drauf.", bat Doktor Clausen, obwohl Varya schon dabei war, mich auf die Liege zu pressen, wobei sie mich dort festschnürte. „Danke."

Clausen kam näher, während er sich zu Lucius umsah. „Lucius. Komm doch bitte näher." Clausen lächelte. Vorsichtig trat Lucius näher an meine Liege heran. Doch er achtete darauf, mir nicht zu nahe zukommen.

Panik breitete sich in mir auf. Ich wollte nicht wieder in einer Röhre landen! Auf gar keinen Fall! Varyas Griff hatte ich nicht entkommen können. Aber vielleicht diesen Fesseln. Sofort fing ich an mich zu bewegen. Riss meine Beine nach oben, in der Hoffnung, die Fesseln würden reißen. Versuchte meine Arme zu bewegen. So weit es möglich war, bewegte ich mich. Meine Bewegungen wurden immer hektischer. Aber auch wütender. Wenn ich doch nur mein Eis benutzen könnte ... Ich meinte, ein wenig Kälte zu spüren, doch so schnell wie dieses Gefühl aufkam, verschwand es wieder. Vor Frust und Wut wollte ich schreien, doch der Mundkorb verhinderte das. Sollte ich hier irgendwann herauskommen ... Lucius würde sich danach sehnen, mich niemals wiedergetroffen zu haben! Und Clausen? Der würde doch hoffentlich um sein Leben flehen! Dann würde er sich ganz bestimmt nicht mehr überlegen fühlen. Und mit ihm, würde diese gesamte Forschungsinstitution untergehen. Und danach würde ich mir endlich Ambrosia vornehmen! Es wurde langsam Zeit, dass ich das tat. Es war längst überfällig gewesen. Ambrosia sollte ein für alle mal vom Erdboden verschwinden.

Ruhig betrachtete Clausen meine Befreiungsversuche. Mit einem Lächeln quittierte er sie. Lucius dagegen stand unbehaglich neben Clausen. Es sah so aus, als kämpfte er mit seinem Gewissen. Doch er würde mir nicht helfen. Auf Lucius konnte ich nicht vertrauen. Ich musste einen anderen Weg hier raus finden. Obwohl ich mir ziemlich unsicher war, was Varya anging, schien sie mir wie meine letzte Chance. Vielleicht hatte ich Glück und würde, wenn ich genug auf sie einredete, zu ihr durchdringen. Wenn nicht, würde ich vermutlich bis an mein Lebensende in diesem Labor eingesperrt sein. Und mein Lebensende würde vermutlich früher eintreffen, als erwartet.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now