Kapitel 83

3K 294 46
                                    

Ohne zu zögern ging Varya zu meiner Zelle und öffnete sie. Vorsichtig verließ ich diese. „Hast du einen Plan?", wollte Varya wissen. „Wie kommen wir hier raus und wo gehen wir hin?"

Ich sah mich hier um. „Wo genau sind wir eigentlich?", fragte ich.

„Im Regierungsgebäude in London.", antwortete Varya. „Wir befinden uns im fünften Untergeschoss. Das wird nicht einmal im Fahrstuhl angezeigt. Demnach wissen nur die Wenigsten von diesen Laboren."

Nachdenklich nickte ich. „Ist das Mutantenserum das Einzige, woran Clausen forscht?" Varya nickte. „Gut.", sagte ich, streckte meine Hände aus und schlagartig fielen die Temperaturen in diesem Zimmer. Der Boden wurde mit Frost überzogen, der sich komplett ausbreitete und auch an den Tischen herauf kroch.

„Hey, was tust du da?", rief Varya aufgebracht und wollte mich stoppen, doch ich hielt sie zurück.

„Ich zerstöre seine Forschungen und auch seine Möglichkeiten zu experimentieren.", sagte ich entschieden. „Es ist das Beste für uns alle, wenn diese Forschungsabteilung geschlossen wird."

Verzweifelt schüttelte Varya ihren Kopf. „Aber dann haben wir niemals mehr die Chance, Menschen zu werden! Wir werden für immer Ausgestoßene sein!", argumentierte sie.

Eis überzog alle Gerätschaften hier im Raum. „Ich glaube nicht, dass Clausen der Einzige ist, der daran forscht, die Mutationen rückgängig zu machen.", erwiderte ich. „Außerdem bezweifle ich, dass überhaupt viele Mutanten wieder zu Menschen werden wollen. Natürlich finden wir das alle ungerecht und schlimm, wie wir behandelt werden. Aber man kann für seine Rechte und sein Leben kämpfen. Damit haben einige Mutanten schon angefangen." Varya sah so aus, als wollte sie dazu etwas sagen, doch dann ließ sie es.

In aller Ruhe fror ich den gesamten Raum ein, dann traten wir aus der Tür. Der Gang war lang und die Wände, wie auch der Boden waren mit glänzend weißen Fliesen bedeckt. Die Neonröhren an der Decke spendeten kaltes Licht. „Wo geht es rau?", wollte ich wissen und Varya deutete nach rechts. Mit zügigen Schritten liefen wir den Gang entlang.

„Vergiss nicht, alles was du siehst zu zerstören.", sagte Varya plötzlich, woraufhin ich sie erstaunt ansah. War sie vorhin nicht noch dagegen gewesen? Scheinbar hatte sie sich mit dem Gedanken angefreundet, alles hier, das sie mit schlechten Erinnerungen verband, zu zerstören. „So können wir nicht nur diese Forschungen ein für alle mal beenden, sondern auch der Regierung eins auswischen.", fügte sie hinzu und ich nickte. Rache. Es war also Rache. Den Gefallen tat ich ihr gerne. Mein Eis durchzog nicht nur den Gang, sondern drang auch durch jede Tür, an der wir vorbei gingen. Da jedoch nirgendwo Stimmen zu hören waren, ging ich davon aus, dass bloß Clausen und Varya hier unten arbeiteten.

Varya lotste mich durch das Labyrinth aus weißen Gängen, ehe sie innehielt. „Moment.", sagte sie. „Dein Bruder."

Ich verzog keine Miene. „Der kommt gut alleine klar.", meinte ich ernst. „Außerdem versteht er sich gut mit Clausen." Zu meiner Überraschung schüttelte Varya ihren Kopf. „Nein. Tut er nicht.", erwiderte sie zähneknirschend. „Seit er Doktor Clausen davon abhalten wollte, dir das Serum zu injizieren, sieht der Doktor ihn als eine Gefahr für seine Forschungen an. Als er heute den Raum verlassen hatte, sollte ich ihn einholen und auf eine Liege schnallen."

Zwiegespalten stand ich mitten im schneeweißen Gang. Eigentlich sollte ich Lucius für das, was er getan hatte, einfach seinem Schicksal überlassen. Aber konnte ich das wirklich tun? Auch wenn er das vielleicht nicht so aufgefasst hatte, er bedeutete mir immer noch einiges. Selbst, wenn ich ihn momentan für seine Taten verabscheute und mir wünschte, ihn nie wiederzusehen.

„Er ist dein Bruder.", sagte Varya. „Halte ihn fest, so lange er noch da ist. Irgendwann wirst du es bereuen, ihn verloren zu haben. Im Gegensatz zu meinem Vater sieht dein Bruder dich als die Person, die du bist und akzeptiert das sogar."

Verächtlich lachte ich auf. „Er akzeptiert mich nicht als Mutant. Er will mein menschliches Ich zurück."

Doch Varya schüttelte ihren Kopf. „Lucius akzeptiert dich als Mutant. Aber er glaubte, dein menschliches Selbst zurückholen zu können. Das, das er verloren und nie wiedergefunden hat.", meinte sie felsenfest. Verbittert presste ich meine Lippen fest aufeinander. Lucius war mein Bruder. Es hatte eine Zeit gegeben, in der wir beide unzertrennlich gewesen waren. Außerdem konnte ich ihn nicht einfach sich selbst überlassen, wenn ich doch ahnen konnte, was ihm blühte. So kaltherzig war ich nicht.

„Wo ist er?", wollte ich wissen.

„Komm mit.", sagte Varya. Sie bog in den nächsten Gang ein und steuerte eine geschlossene Tür an. Vor dieser blieben wir beide stehen. Warnend legte sie ihren Zeigefinger an ihre Lippen. Ich nickte leicht. Wir beide lauschten kurz.

„Du verstehst sicher, dass ich nicht riskieren kann verraten zu werden.", ertönte Clausens Stimme sanft. „Aber du kannst immer noch nützlich sein. Schließlich haben wir beide zusammen gearbeitet. Wieso tun wir das nicht weiterhin?" Clausen schwieg einen Moment lang und es war still hinter der Tür. „Was hältst du davon, ein Mutant zu werden, Lucius?" Ich konnte mir das entsetzte Gesicht meines Zwillings bildlich vorstellen. Er hielt von Clausens Vorschlag recht wenig. Mir reichte es. Auch wenn ich es Lucius gönnen würde, ein Mutant zu werden, verdienen tat er es nicht. Außerdem fürchtete ich, er könnte sein Leben wegschmeißen und sich von allen isolieren, würde er zum Mutant werden. Immerhin war er noch immer ein Jäger. Eine mutierte Schwester konnte er noch verkraften, aber selbst zum Mutanten zu werden, wäre zu viel für ihn.

Die eisige Kälte sammelte sich in meinen Fingerspitzen. Daraufhin stieß Varya die Tür auf und ich betrat mit schnellen Schritten das Zimmer. Erschrocken zuckte Clausen zusammen, der mit einer Spritze vor einer ähnlichen Liege stand, wie die, auf der ich bereits gelegen hatte. Lucius war an Hand- und Fußgelenken an die Liege gefesselt und hatte einen Knebel im Mund. Scheinbar waren Clausen die Maulkörbe ausgegangen.

Als Clausen mich erkannte, entgleisten ihm die Gesichtszüge. „Freya? Wie ...?", stammelte er und erkannte schließlich Varya hinter mir. Zunächst war er erleichtert, doch als er bemerkte, dass Varya gar nicht daran dachte, mich zu packen und einzusperren, wirkte er noch entsetzter als vorher. Er wich so weit wie nur möglich vor uns zurück und stieß an die Wand. Ohne Vorwarnung schossen scharfe Eiszacken aus meine Fingerspitzen und durchbohrten Clausens Hand, in der er das Serum hielt. Vor Schmerz schrie er auf und Tränen traten in seine Augen. Durch meine Eiszacken war seine Hand an die Wand hinter ihm fixiert. Mein Eis, wie auch die weiße Wand hinter ihm verfärbten sich rot.

Ein Lächeln erschien auf meinen Lippen, während ich auf Clausen zu ging. Dieser zitterte am gesamten Leib, während Tränen aus seinen Augen quollen. Seine Unterlippe bebte. „Wissen Sie eigentlich, wie lange ich darauf gewartet habe?", fragte ich, wobei meine Augen boshaft glühten. „Niemand kann Ihnen jetzt noch helfen. Ihr Leben liegt nun in meiner Hand. Wie gefällt Ihnen das?" Mein Lächeln wurde eine Spur breiter und grausamer. Ich könnte Clausen leiden lassen. Ich könnte ihn um Gnade flehen lassen. Ich könnte endlich meine Rache haben. Stattdessen begnügte ich mich damit, seine gesamte Arbeit vor seinen Augen vereisen zu lassen. Entsetzt weiteten sich seine Augen. „Nein!", hauchte Clausen. Und dann lauter: „NEIN!" Er versuchte seine Hand von der Wand zu befreien, wobei er jedoch vor Schmerz aufschrie.

Finster blickte ich auf ihn herab. „Ich lasse Sie am Leben. Aber ich glaube, dass ist für Sie die größte Strafe. Jedenfalls müssten Sie dafür gefunden werden. Allerdings weiß ich nicht, wie viele Menschen von der Existenz dieses Untergeschosses wissen.", sagte ich kalt.

Mit jeder Sekunde wurde immer mehr von Clausens Arbeit zunichte gemacht. Clausen schrie entsetzt laut auf, als das letzte freie Fleckchen nun auch mit Eis überzogen wurde. Kraftlos sank er in sich zusammen. Gleichgültig kehrte ich Julius Clausen den Rücken zu und wandte mich Lucius zu. Mit einem Ruck zog ich ihm den Knebel aus dem Mundund Lucius spuckte einmal aus. „Danke.", sagte er erleichtert und schenkte mir ein zögerliches Lächeln.

„Nur dieses eine mal.", sagte ich unterkühlt, woraufhin Lucius' Lächeln erlosch. Ich winkte Varya herbei und sie löste Lucius' Fesseln. Vorsichtig setzte Lucius sich auf.

„Ich bringe dich noch zu deinen Jägern. Aber dann trennen sich unsere Wege."

Freya Winter - MutantHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin