Kapitel 92.4

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„Louis, ich bitte dich. Lass mich los.", bat Bill. Es überraschte mich, dass er noch immer ruhig klang. Jemand anderes an seiner Stelle würde jetzt sicherlich um sein Leben fürchten. Doch Bill schien das nicht aus der Fassung zu bringen.

„Wie ich sehe, brauchst du gar keine Messer.", stellte ich fest, woraufhin Lucius grinste. „Nichts ist besser als deine Messer. Aber im Notfall tut es der Kugelschreiber auch.", sagte er. Offensichtlich.

„Fenya, ich will euch nichts Böses.", wandte Bill sich jetzt an mich. „Genau wie die beiden da vorne bin ich nicht bewaffnet. Dein Bruder kann mich also loslassen." Bittend sah er mich an.

„Lass ihn los. Egal, was er tut, ich bin schneller als er.", sagte ich. Widerwillig seufzte Lucius, ließ aber von unserem Fahrer ab. Sobald Bill wieder frei war, richtete er erst einmal seine Brille, die dieses Mal tatsächlich schief saß.

„Dürfen die beiden näher kommen?", wollte Bill von uns wissen.

Lucius warf mir einen fragenden Blick zu. Gleichgültig zuckte ich mit meinen Schultern. Bill hatte recht. Keiner von ihnen war bewaffnet. Und falls einer von ihnen doch irgendwie zu einer Waffe greifen sollte, würde ich handeln. Nur bei der Rothaarigen war ich mir nicht sicher, ob sie nicht noch eine andere Option als eine Waffe hatte.

Bill machte den beiden Frauen ein Zeichen. Vorsichtig und wachsam kamen sie langsam näher. Lucius hielt noch immer den Kugelschreiber in seiner Hand. Genau wie ich war er aufmerksam. Bereit zu handeln.

Einige Meter entfernt von uns, blieben die beiden stehen. Auch sie ließen uns nicht aus den Augen.

„Das sind Hillevi", Bill deutete auf die Blonde, „und Adeen." Er deutete auf die Rothaarige. „Sie beide helfen mir."

„Wobei?", fragte mein Bruder sogleich misstrauisch. Er musterte die beiden Frauen eingehend. Wobei er auch einen Moment bei der Rothaarigen hängenblieb. Genau wie ich zuvor. Also hatte ich mich nicht geirrt. Etwas stimmte mit ihr nicht. Lucius sah es auch. Nur was war es?

„Zu dritt schmuggeln wir Mutanten.", erklärte Bill und lächelte die beiden Frauen an. Hillevi und Adeen lächelten nicht. Sie beide waren angespannt und beobachteten jede unserer Bewegungen. Im Gegensatz zu ihnen schien Bill keine Bedenken zu haben. „Und heute haben sie euch ein Auto gebracht." Mit einem Kopfnicken deutete er auf das schäbige Auto, das einige Meter entfernt stand. „Keine Sorge. So teuer war es nicht. Eigentlich war es sogar recht günstig." Bestimmt hatten sie es von einem Schrottplatz. Aber so lange es fuhr, würde ich mich nicht beschweren. Dennoch traute ich dem Ganzen noch nicht.

„Hätte es dann nicht gereicht, dass eine von ihnen herkommt?", harkte Lucius eisern nach. Immerhin musste das Auto nur hergefahren werden und anschließend könnte die Fahrerin zu Bill in den Wagen steigen. Allerdings hatte dieser nur zwei Sitzplätze. Hier jedoch waren drei Personen, die irgendwie wieder zurück mussten.

„Theoretisch schon.", meldete sich nun auch Hillevi zu Wort. Sie hatte einen leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte. „Aber auch wir gehen mit unseren Aktionen ein Risiko ein. Und manchmal müssen wir uns selbst schützten. Meist nicht vor Polizisten oder dergleichen. Sondern vor unseren Schützlingen. Vor allem wenn diese aufgewühlt oder misstrauisch sind." Ihr Blick schwenkte dabei zu meinem Bruder.

„Außerdem sind ebendiese Schützlinge nicht gerade ungefährlich.", merkte nun auch Adeen an. Im Gegensatz zu Hillevi klang ihre Stimme überhaupt nicht sanft.

„Dann gehe ich mal davon aus, dass du zum Schutz da bist.", vermutete ich trocken, woraufhin Adeens Mundwinkel sich zu einem leichten Grinsen hoben.

„Aber ich habe doch gar keine Waffen.", erwiderte sie. In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Spott mit. Hillevi warf ihrer Kollegin einen warnenden Blick zu. Wahrscheinlich sollte sie uns nicht provozieren. Doch Adeen ignorierte sie.

„Du brauchst keine Waffe.", stellte ich nüchtern fest.

„Ach und wieso glaubst du das?" Adeen lächelte scheinheilig. Spätestens jetzt lag auch Lucius' ungeteilte Aufmerksamkeit auf der Rothaarigen. Bill war nicht mehr wichtig. Die größte Gefahrenquelle war definitiv Adeen.

„Adeen!", zischte Hillevi entrüstet. „Bitte lass das!" Offensichtlich war sie die Vernünftigere der beiden. Sie wirkten wie komplette Gegensätze. Wie Tag und Nacht. Und dennoch schien die beiden irgendetwas zu verbinden. Da war eine Vertrautheit, die ich nicht ganz erfassen konnte.

„Weil du eine Mutantin bist.", antwortete ich.

„Du hast es tatsächlich erkannt.", grinste Adeen und ihre dunklen Augen funkelten amüsiert. „Und im Gegensatz zu dir muss ich mich nicht einmal verstecken." Ihr Blick glitt über die Kapuze, die mein Gesicht verdeckte. Meine Miene verdüsterte sich. Dafür, dass sie wie ich eine Mutantin war, war sie alles andere als verständnisvoll, was meine offensichtlich unmenschliche Gestalt anging. Es konnte nun einmal nicht jeder das Glück haben, trotz der Mutation relativ menschlich auszusehen und ein normales Leben führen. Allein diese Aussage ihrerseits machte mich wütend. Dennoch reagierte ich darauf nicht.

Erschrocken schnappte Hillevi nach Luft. „Adeen!", flüsterte sie entsetzt. „Bitte sei still!" Beruhigend tätschelte Adeen Hillevis Hand. Der Blick, den sie ihrer Kameradin dabei zuwarf, war voller Zuneigung.

„Keine Sorge. Ich wollte nur wissen, wie gut sie sich unter Kontrolle hat.", beruhigte sie Hillevi. „Und selbst wenn: Ich bin ja hier." Zuversichtlich ergriff sie die Hand der Blonden und drückte sie sanft.

Lucius schnaubte. „Das würde euch auch nichts bringen." Dabei hatte er wohl recht. Aber weder Hillevi, noch Adeen konnten ahnen, dass ich dazu in der Lage war, aus dem Nichts Eis entstehen zu lassen. Und sie konnten nicht wissen, dass Lucius ein Jäger war, dem der Umgang mit Mutanten nichts Unbekanntes war. Er wusste, wie er handeln musste, sollte Adeen angreifen.

„Na komm.", fing Adeen wieder an zu provozieren. „Wie wäre es, wenn du mir mal dein Gesicht zeigst? Muss wirklich schlimm sein, wenn du dein Gesicht versteckst." Unberührt beobachtete ich Adeen. Wollte sie damit wirklich erreichen, dass ich die Fassung verlor? Wollte sie etwa einen Kamp? Das wäre wirklich unklug von ihr. Bill und Hillevi wären ohne sie besser dran gewesen. Obwohl sie nur zum Schutz dabei war, bräuchte man diesen Schutz ohne sie vermutlich überhaupt nicht. Was also sollte das?

„Adeen, es reicht.", sagte nun auch Bill, der tatsächlich nicht gerade sehr erfreut wirkte. Sein Gesicht hatte sich verdunkelt und offensichtlich gefielen ihm Adeens Provokationen nicht. Jedoch fragte ich mich, wieso Adeen das tat. Wirklich nur, weil sie wissen wollte, über wie viel Selbstkontrolle ich verfügte? Unsinn.

Außerdem verstand ich nicht, weshalb sie auf meinem unmenschlichen Aussehen herum hackte. Schließlich war sie eine Mutantin. Sie sollte meine Situation eigentlich auch verstehen. Und das, obwohl sie überraschend menschlich aussah. Fühlte sie sich mir etwa überlegen? Weil sie im Gegensatz zu mir normal unter Menschen leben konnte? Aber weshalb half sie dann Mutanten wie mir, wenn das hier tatsächlich keine Falle war? Ihr konnte das alles theoretisch egal sein. Wie man mit Mutanten umging, betraf sie wahrscheinlich nicht. Vielleicht sah sie sich sogar als Mensch. Als besserer Mensch.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt