Kapitel 49

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Kapitel 49

Wir befanden uns so ziemlich in der Klemme. Wir konnten nicht weiter und genau das mussten wir. Weitergehen. Ich lehnte mich an den Gitterstäben an und schloss meine Augen. Wenn wir schon nicht weiterkamen, musste ich wenigstens versuchen mich auszuruhen, damit wir vielleicht eine Chance haben könnten. Doch so lange wir uns in diesem Käfig befanden war das wohl kaum möglich. Mir blieb nicht unbemerkt, dass Liam mit der Zeit unruhiger wurde. Immer wieder sah er zu mir. Als würde er auf etwas warten. Doch worauf?

Die Jäger hatten währenddessen ein kleines Feuer entfacht, um das sie sich gesammelt hatten. Sie starrten stumm in die züngelnden Flammen. Liam war merklich nervös. Er tat sich schwer damit, einfach sitzen zu bleiben. Vor allem, als er mich einmal kurz beiläufig berührt hatte. Was das zu bedeuten hatte wusste ich nicht. Jedoch hatte er nicht gerade zufrieden ausgesehen. „Hey!", rief er dann auf einmal und sofort hatte er die Aufmerksamkeit der Jäger. „Was?!", fuhr ihn Mikéle an. „Hast du irgendein Problem?" Mikéle grinste, als er von Liam auf die Gitterstäbe vor ihm und wieder auf Liam sah. Liam knurrte. Mikéle lachte, doch sein Lachen blieb ihm im Hals stecken, als er aus Versehen zu mir blickte. Schnell widmete er sich wieder Liam. „Also, Mutation, was ist dein Problem?", fragte Mikéle herablassend. Liam stellte sich ein wenig aufrechter hin. „Sie braucht Eis.", sagte Liam. Mikéle runzelte seine Stirn und sah Liam zweifelnd an, als sei er sich nicht ganz sicher, ob das ein Scherz sein sollte. „Sie braucht was?"

Liam stöhnte. „Eis.", wiederholte er. „Sie brauch Eis. Viel Eis." Mikéle lachte unsicher auf. „Ja, klar. Ein Eis kann sie sich später holen." Liam verdrehte seine Augen. Wieso sollte ich bitte Eis brauchen? „Nein. Du verstehst nicht. Ich rede nicht von einer Kugel Eis oder Wassereis. Ich rede von Eis. Richtigem Eis.", erklärte Liam.

„Lucius!", rief Mikéle meinem Bruder zu. „Der Mutant faselt irgendetwas von Eis!" Mein Bruder erhob sich nur recht widerwillig und kam auch nicht gerade willig zu uns zum Käfig. In meine Nähe. „Was ist los?", fragte Lucius Mikéle nicht gerade gut gelaunt. Mikéle zeigte auf Lucius. „Er meint, dass sie Eis bräuchte. Richtiges Eis." Lucius zog verwirrt eine Augenbraue hoch. „Eis?", harkte er nach.

„Eis.", bestätigte Liam.

„Aha und wieso?", wollte Lucius wissen, der es mied, mich anzusehen. Abwartend sah er Liam an. Wartete auf eine gute Antwort. „Weil ihre Körpertemperatur zu warm ist.", sagte Liam. „Sie muss abgekühlt werden." Lucius, wie auch ich starrten Liam an.

„Wie bitte?", fragten wir gleichzeitig und als wir beide bemerkten, dass wir es gleichzeitig gesagt hatten, senkten wir zeitgleich den Blick. Und auf einmal starrten uns alle an. Egal ob Jäger oder Mutanten. Kieran streckte prüfend seine Hand nach mir aus und fühlte meine Stirn. Erschrocken sah er zu Liam. „Sie hat die Körpertemperatur eines Menschen.", berichtete er. Ich starrte ihn an. „Was?", fragte ich. „Das kann nicht sein. Das hatte ich seit 9 Jahren nicht mehr!" Ich versuchte mich aufzurichten. Sofort drücke Liam mich wieder zurück. „Das Feuer.", sagte Liam. „Das Feuer ist schuld. Ich hätte dich früher da raus holen sollen. Ich habe zu lange gewartet."

„Feuer?!", stieß Lucius entsetzt aus, während er mich ansah. Das Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Es schien, als habe er Angst. Angst um mich.

„Sie verträgt Hitze nicht.", sagte Liam beiläufig, während er meine Stirn fühlte. Er wandte sich an meinen Bruder. „Habt ihr Eis? Nach einem Kühlschrank brauche ich gar nicht erst zu fragen, oder?" Liam und Mikéle warfen sich verwirrte Blicke zu.

„Wir haben eine Kühltasche.", kam es von James und er hielt eine kleine Tasche hoch. „Da sind Eiswürfel drin. Geht das auch?" Liam wirkte erleichtert und er nickte. James kam vorsichtig näher. Blieb vor den Gitterstäben stehen und langsam streckte er seine Hand mit der Kühltasche zwischen den Stäben hindurch. Aufmerksam sah er Kieran und Liam an. Liam nahm ihm die Kühltasche ab, bedankte sich sogar. James warf mir noch einen kurzen Blick zu, ehe er sich abwandte und wieder zurück zum Feuer lief. Liam riss die Kühltasche auf und nahm eine Hand voll Eiswürfel heraus. Für die Jäger musste es merkwürdig sein. Vor allem für Lucius. Wer brauchte auch schon Eis, um sich zu erholen? Und wer machte sich auch schon darum Sorgen, weil man eine normalerweise gesunde Körpertemperatur hatte? Liam legte mir die Eiswürfel auf die Stirn und verteile die restlichen aus der Kühltasche auf mir. Die wohlige Kälte hüllte mich ein. Normalerweise war ich so kalt wie ein Eiswürfel, der gerade frisch aus dem Kühlschrank kam. Da konnte die Kühltascheneiswürfel zwar nicht so ganz mithalten, aber in meinem jetzigen Zustand war es sehr angenehm. Und somit dämmerte ich auch schnell weg. Versank erneut im Reich der Dunkelheit.

Die Nacht wich dem Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen durchdrangen das dichten Blätterdach des Waldes. Geweckt wurde ich durch die Wärme. Wimmernd machte ich mich kleiner. Ich vermisste meine Klimaanlage. Und mein Bett. Etwas in mir zog sich zusammen, als ich an Aldric dachte. Aldric war tot und das war unsere Schuld. Wir hätten ihn retten können. Aber das haben wir nicht. Und hätte er niemals angefangen nett zu mir zu sein, dann wäre das auch nicht passiert. Es fühlte sich noch so unwirklich an. Es war so schwer zu glauben, dass Aldric jetzt tot sein sollte. Dass er nie wieder da sein würde. Ich schlug meine Augen auf. Neben mir schlief Liam, der sich tatsächlich komplett auf den Boden gelegt hatte. Kieran dagegen schlief im Sitzen. Er hatte sich an die Gitterstäbe gelehnt die die Beine ausgestreckt. Seine Arme hatte er selbst ihm Schlaf vor seiner Brust verschränkt. Plötzlich bemerkte ich Lucius, der kaum einen Meter von unserem Käfig entfernt an einem Baumstamm lehnte und genau wie ich gerade aufwachte. Schläfrig sah er zu mir. „Weshalb bist du schon wach?", murmelte er und gähnte. „Es ist zu warm.", murmelte ich und gähnte ebenfalls. Ungläubig starrte mein Bruder mich an. „Wie? Zu warm? Wir haben gerade mal knapp zwanzig Grad!"

„Sag ich doch. Zu warm.", brummte ich. Genau in diesem Moment begriffen wir beide, was wir da taten. Wir redeten. Redeten, als sei es vollkommen normal. Schnell wandten wir beide uns ab und schwiegen. Ich war noch müde. Deshalb hatte ich nicht nachgedacht. Deshalb hatte auch Lucius nicht nachgedacht. Anders konnte ich es mir nicht erklären, dass wir uns so ... normal ... verhalten hatten. „Du bist nicht Freya.", riss mich auf einmal Lucius' leise Stimme aus den Gedanken. „Du kannst nicht Freya sein." Seine Worte schmerzten mich. Unter seinen Worten zuckte ich schmerzlich zusammen. Und da war er wieder. Lucius, der Jäger. Nicht Lucius, mein Zwillingsbruder. Aber für einen kleinen Moment war alles okay. Nur, dass dieser Moment nicht einmal eine Minute angehalten hatte. „Wieso bist du dir so sicher, dass ich nicht Freya sein kann?", flüsterte ich. Erst dachte ich, Lucius würde nicht antworten. Er sah mich ja noch nicht einmal an. „Weil Freya tot ist. Du, wer auch immer du sein magst, hast nur ihren Körper. Und selbst der ist nicht mehr der, der Freya gehört hat.", flüsterte Lucius. „Du hast nicht nur den Körper meiner Schwester gestohlen, sonder ihn auch noch verändert. Das ist abartig." Schmerz. Es war Schmerz. Doch ich sagte nichts. Ich zuckte nicht einmal zusammen. Die Menschen wussten nichts über Mutanten. Lucius' Unwissenheit bestätigte mir das. Sie waren niemals über uns aufgeklärt worden. Ich wussten nicht wie viele verschiedene Theorien über uns existierten. Doch dies hier war anscheinend die von meinem Bruder. Und ich konnte ihm nicht einmal sagen, dass ich wirklich einmal gestorben bin. Denn sonst würde er mir niemals glauben, dass ich wirklich Freya war. Denn dann könnte ich so überzeugend sein, wie ich wollte. Er würde mir nicht glauben. Ich hatte die Hoffnung verloren. Die Hoffnung verloren, dass alles besser werden würde. Dass Lucius, wie Liam gesagt hatte, endlich kapierte, dass seine Schwester noch immer da war. Dass sie noch lebte. Dass ich noch lebte.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now