Kapitel 90

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Am Abend hatte Samuel alle Bewohner des Hauses im Wohnzimmer versammeln lassen. Gespannte Blicke lagen auf ihm, während er vor der Küche stand und alle Anwesenden im Blick hatte. Sanyas Skizzen lagen nach wie vor auf dem Tisch. Ein paar Mutanten waren sie schon aufgefallen und sie beugten sich neugierig darüber. Es wurde nicht leise miteinander geredet. Sie alle warteten darauf, dass Samuel die Stimme erhob. Seine Cousine stand anders, als ich es erwartet hatte, nicht neben ihm, sondern saß neben Sanya auf dem Sofa.

Varya, Lucius und ich standen etwas abseits. Eigentlich fühlte ich mich ein wenig unwohl. Schließlich gehörten wir nicht zu ihnen. Dennoch hatte Samuel uns ausgeredet, während der Besprechung in einem anderen Zimmer zu verschwinden, damit sie in aller Ruhe über ihr nächstes Vorhaben sprechen konnten.

„Redet keinen Schwachsinn!", hatte Samuel kopfschüttelnd gesagt. „Ihr seid in diesem Haus. Egal, wie lange oder kurz ihr hier bleiben werdet. Also gehört ihr sowieso dazu. Und auch, wenn ihr wieder geht, könnt ihr anderen Mutanten, die ihr auf eurem Weg trefft, von unserer kleinen Organisation erzählen. Sie sollen wissen, dass es noch Hoffnung gibt. Auch, wenn sie selbst vielleicht nicht herkommen. Und wenn ihr auf Menschen trefft: umso besser! Wir werden ein paar Flugblätter vorbereiten, die ihr dann mitnehmen könnt. Sicher könnt ihr auf eurer Reise irgendwo halten und sie in ein paar Briefkästen werfen. Außerdem betrifft das hier uns alle. Nicht nur uns Mutanten. Nein. Wenn wir Erfolg haben sollten, sind die Menschen genauso von den Veränderungen betroffen." Somit hatte er Sanya den Auftrag gegeben, aus den paar Blättern, die noch übrig waren, Flugblätter für uns herzustellen. Zwar hatte sie schon damit angefangen, doch fertig war sie noch nicht. Vermutlich morgen, laut ihr.

Also nahmen wir an dieser kleinen Versammlung teil. An sich hatte ich nichts dagegen. Ganz im Gegenteil. Ich fand es wirklich gut, was diese Mutanten hier taten. Dass sie für uns alle eintraten. Bis vor wenigen Wochen hatte ich noch nicht gewusst, dass es da draußen jemanden gab, der für die Mutanten auf die Straße ging, um unsere Rechte, unsere Freiheit einzufordern. Dass sich Mutanten zusammentaten und entschieden hatten, dass sie ihr Los nicht akzeptieren. Es war bewundernswert.

Und wer weiß? Wenn diese Nachricht verbreitet wurde, konnten Mutanten, die eigentlich schon aufgegeben hatten, wieder neue Hoffnung gewinnen. Neuen Mut finden, selbst etwas bewirken zu wollen. Nicht mehr tatenlos zusehen, sondern aktiv ihre Zukunft mitgestalten. Ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Es wäre wundervoll. All die Dinge, die diese kleine Gruppe bewirken könnte ... Und selbst, wenn sie es nur schaffen würden, Hoffnung zu verbreiten. Die Hoffnung würde wachsen wie ein kleiner Funke. Er würde sich entzünden und zu einem Feuer werden, das irgendwann nicht mehr aufzuhalten wäre. Hoffnung konnte so unglaublich viel bewegen. Hoffnung war so machtvoll.

Ein seichtes Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Ich war so unglaublich froh, hier zu sein. Erfahren zu haben, dass es Leute wie Samuel und Enya gab. Endlich sah ich einen Lichtblick in all der Dunkelheit. Einen kleinen, glühenden Funken.

Von der Seite her beobachtete mich mein Zwillingsbruder. Ich wandte mein Gesicht zu ihm und erwiderte seinen Blick. „Was ist?", fragte ich.

„Du wirkst wirklich glücklich.", sagte er. „Das habe ich lange nicht mehr gesehen." Mein Lächeln verrutschte. Das fiel auch Lucius auf. Schuldgefühle trübten seine Augen und ließen sein Gesicht verdunkeln. „Ich weiß, dass das auch meine Schuld ist. Und dafür gibt es einfach keine Entschuldigung.", sprach er mit belegter Stimme. „Aber jetzt sind meine Augen offen. Zwar dachte ich das auch schon vorher, aber jetzt weiß ich, dass dem nicht so war. Doch jetzt. Jetzt sind sie wirklich offen. Jetzt sehe ich wirklich. Und ich weiß, dass diese Leute hier das Richtige tun." Ehrlich überrascht sah ich meinen Bruder an. Ich hatte vieles erwartet, aber nicht das. Er hätte jetzt sonst was sagen können. Das hätte ich eher erwartet, als diese Worte. Diese Worte, die so schmerzhaft ehrlich klangen. Lucius wusste um die Schuld, die auf ihm lastete. Eine so unglaublich schwere Last. Dass er sich dennoch traute, sich seine Fehler einzugestehen und der Schuld offen ins Gesicht zublicken, erforderte wohl eine Menge Mut und Überwindung. Vor allem wenn man bedachte, dass er noch vor gar nicht allzu langer Zeit überzeugt Mutanten getötet hatte. Vielleicht hatte er seine alte Denkweise noch nicht komplett abgelegt. Zulange beeinflusste sie einen großen Teil seines Lebens. Seiner Selbst. Aber er bemühte sich und er war auf einem guten Weg.

All dies verursachte in mir einen Zwiespalt. Noch immer hatte ich ihm nicht vergeben, sich Clausen angeschlossen und mich hintergangen zu haben. Das war unverzeihlich. Er hatte mitgeholfen, mich wieder zu einem Versuchsobjekt zu machen. Das konnte ich nicht vergessen. Selbst wenn ich es versuchen würde. Diese Episode meines Lebens würde mich für immer wie ein dunkler Schatten verfolgen. Und ich wusste noch nicht, wie ich mit ihm umgehen würde. Nach wie vor spukte in mir der leise Gedanke, Lucius, sobald wir die anderen wiedergefunden hatten, einfach zurück zu lassen. Weit zurück.

Ob ich das konnte? Tatsächlich wusste ich das nicht. Zu viel war geschehen. Und dennoch klammerte ich mich verzweifelt an die Hoffnung, dass das schon alles werden würde. Dass es kein Risiko wäre, ihn weiterhin in meiner Nähe haben zu wollen. Zu viele Jahrelang hatte ich mich nach meiner Familie gesehnt, obwohl ich immer geglaubt hatte zu wissen, dass das unmöglich war. Bis Lucius plötzlich vor mir stand und entgegen aller Erwartungen schien es auf einmal doch, als hätte sich zumindest ein Teil meiner Wünsche erfüllt. Konnte ich das so einfach aufgeben?

Ein Räuspern riss mich aus meinen Gedanken. Ernst blickte Samuel in die Runde. Plötzlich war da wieder diese Autorität, die von ihm ausging, wie ich sie am Anfang schon an ihm bemerkt hatte. Allerdings hatte ich sie seither nicht mehr wahrgenommen. Er wirkte auf einmal so vollkommen anders. Würde man ihn nicht kennen, würde man sich vor ihm fürchten.

„Ich habe euch hier versammelt, weil wir etwas Wichtiges zu besprechen haben.", begann Samuel und sah jeden Einzelnen an. Ernst schwebten seine Augen über die Mutanten. Still und erwartungsvoll erwiderten sie seinen Blick. Egal, was er ihnen erzählen würde: sie würden ihm bedingungslos folgen. Das alles sah ich in ihren Augen. Sie vertrauten Samuel. Vertrauten ihm ihr Leben an. Auf Samuels Schultern lag eine solch unglaublich schwere Last. Er hatte nicht nur für seine und die Sicherheit seiner Cousine zu sorgen, sondern musste sich auch noch um all die anderen Mutanten kümmern. Außerdem musste er nicht nur darauf aufpassen, dass er keinen falschen Schritt machte, sondern auch noch darauf, dass den anderen kein Fehler unterlief. Würde dieses Haus entdeckt werden, wäre das ihr aller Ende. Wenn Enya mich für eine Heldin hielt, sollte sie sich lieber einmal ihren Cousin ansehen. Was er leistete, war unfassbar.

„Wir werden unser Vorgehen ab sofort ändern.", ließ Samuel die anderen gar nicht lange warten. Verwundert warfen sie einander Blicke zu, ehe sie wieder erwartungsvoll zu Samuel sahen. „Heute kam Sanya zu mir. Sie hat an drei verschiedenen Skizzen gearbeitet, die wir als Flugblätter verwenden können."

Interessiert lagen alle Augen nun auf Sanya. Dennoch sprach niemand. Sie warteten darauf, dass Samuel ihnen ihr zukünftiges Vorgehen schilderte. Die Atmosphäre im Raum war gespannt. Doch auf eine positive Weise. Obwohl noch nicht alle wussten, was los war, war ihr Enthusiasmus bereits jetzt schon zu spüren. Sie alle waren bereit. „Fast jeder von euch weiß wie es ist, draußen auf der Straße zu stehen und zu versuchen, die Menschen mit Worten von uns zu überzeugen.", sprachSamuel. „Aber wir alle mussten leider feststellen, dass es nicht ausreicht, uns hinzustellen und auf Menschen einzureden, die uns offensichtlich nicht zuhören wollen." Traurige Blicke. Das ein oder andere bedrückte Seufzen. Jeden hier deprimierte der fehlende Erfolg dieser Gruppe. Aber dass sie dennoch nicht gewillt waren aufzugeben, zeugte meiner Meinung nach von wahrer Stärke.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now