Kapitel 94.2

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„Es ist nicht an euch, über Leben und Tod zu entscheiden.", sagte auf einmal der Grauhaarige. Seine Stimme war sanft und rau. Entschlossen sah er meinen Bruder und mich an. „Sie waren nicht hinter euch her, sondern hinter meiner Familie und mir. Ich bin euch für eure Hilfe wirklich dankbar, aber das hier ist unsere Sache."

Entgeistert starrte Lucius den Grauhaarigen an. „Wenn wir nicht gewesen wären, wären du und deine Familie jetzt tot oder entführt worden!"

Beschwichtigend nickte der Mutant. „Dagegen habe ich auch nichts gesagt. Ich bin dankbar für eure Hilfe. Aber eine Entscheidung über Leben oder Tod dieser Mutanten zu fällen, steht euch nicht zu.", sagte er. Lucius wollte etwas erwidern, doch mit einem leichten Stoß in die Rippen, brachte ich ihn dazu, sich zurückzuhalten.

„Das können wir später diskutieren. Erst einmal sollten wir deine Familie befreien.", meinte ich und deutete auf den nur ansatzweise eingefrorenen Flügel des Elitesoldaten. Zustimmend nickte der Grauhaarige und näherte sich dem Mutanten. Vorsichtig berührte er den Flügel. „Michelle, geht es dir gut?", fragte er leise.

„Ja.", kam es gedämpft zurück.

„Und den Kindern?"

„Nur verängstigt, aber ansonsten geht es ihnen auch gut.", antwortete Michelle. Erleichtert atmete der Grauhaarige aus. Im Sonnenlicht blitzten seine Piercings auf. Achtsam begann ich, den einen Flügel vom Eis zu befreien. Der Grauhaarige stand bereit, für den Fall, dass der Fledermausmutant mit seinem wieder beweglichen Flügelarm angreifen würde. Doch er tat nichts.

Schnell befreite der Grauhaarige seine Familie. Erleichtert fiel seine Frau ihm in die Arme, während seine Kinder sich weinend an seine Beine klammerten. Ganze Sturzbäche rannen über ihre Gesichter, während sie unaufhörlich schluchzten.

„Hey, alles gut. Seht ihr? Alles ist wieder okay.", versuchte der Vater sie zu beruhigen, als er sich zu ihnen hinunterbeugte und beide auf seine Arme hievte. Seine Frau, Michelle, wandte sich an uns. „Danke, dass ihr uns geholfen habt. Fast wäre es mit uns vorbei gewesen.", sagte sie, wobei ihre Stimme am Ende brach. Ihr war der Schock noch immer anzusehen.

Eines der Kinder, das Mädchen, spähte von der Schulter ihres Vaters zu mir herüber. „Papa, das Mädchen hat Schuppen.", flüsterte sie überrascht. „Ist sie wie du?"

„Ja, ist sie.", antwortete der Grauhaarige sanft. Noch immer spähte seine Tochter zu mir herüber. Also stimmte es. Der Mutant war der Vater. So weit ich wusste, hatte es das noch nie gegeben, dass ein Mutant ein Kind hatte. Zumal auch noch die Frage existierte, ob es für uns überhaupt möglich war. Aber diese Kinder waren zur Hälfte Mutanten.

Da wir Mutanten alle noch relativ jung waren, war es merkwürdig nun die Kinder des Grauhaarigen zu sehen. Womöglich waren sie die ersten ihrer Art. Und das war anscheinend herausgekommen. Ansonsten konnte ich mir nicht vorstellen, was die Aufmerksamkeit der Behörden erweckt hatte, weshalb sie den Elitetrupp auf diese Familie angesetzt hatten.

„Lebst du getarnt als Mensch?", fragte ich den Grauhaarigen. Die Antwort interessierte mich wirklich. Tatsächlich nickte er.

„Im Rahmen meiner Möglichkeiten habe ich mich angepasst.", sagte er und blickte an sich hinunter. „Erst einmal war es wirklich gewöhnungsbedürftig. Aber mittlerweile kann ich mir nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu tragen."

Dennoch erschloss sich mir noch immer nicht, wie es möglich war, dass er wie ein Mensch lebte. Außerdem trugen Michelle und er Eheringe. Michelle bemerkte meinen Blick auf die Ringe und sie lächelte.

„Es war wirklich nicht leicht. Aber wir haben es geschafft, ihm einen falschen Pass und gefälschte Zeugnisse zu besorgen, sodass er sogar einen Job annehmen konnte.", erklärte sie zufrieden. Ein schmerzhafter, eifersüchtiger Stich machte sich in meinem Herzen bemerkbar. Obwohl er ein Mutant war, konnte er völlig normal leben. Hatte einen Job, eine Ehefrau und sogar zwei Kinder. „Aber sollten wir uns nicht erst einander vorstellen? Mein Name ist Michelle. Dieser ziemlich düster wirkende Mutant ist Harlan. Und diese beiden heißen Sophia und Felix.", stellte sie ihre Familie vor. Felix, der etwas jünger wirkte als seine Schwester, winkte uns einmal kurz, während Sophia verhalten lächelte.

„Ich bin Freya.", stellte ich mich vor.

„Und ich bin Lucius.", sagte mein Bruder.

„Es freut mich wirklich, euch kennenzulernen.", meinte Michelle lächelnd. Langsam schien sie den Schock überwunden zu haben. Ihr Lächeln verblasste. „Auch wenn die Umstände etwas ... beängstigend sind. Ich weiß nicht, wieso auf einmal der Elitetrupp auf uns gehetzt wurde. Vielleicht hat jemand doch gemerkt, dass mit Harlans Pass und seinen Unterlagen etwas nicht stimmt. Auf jeden Fall sind wir jetzt auf der Flucht." Besorgt blickte sie zu ihren Kindern, die sich noch immer an ihren Vater klammerten. Als sie meinen Blick bemerkte, zuckten ihre Mundwinkel. „Was ist los? Du schaust so verwundert."

Augenblicklich riss ich mich wieder zusammen. „Wusstest du von Anfang an, dass er ein Mutant ist?", fragte ich, auch wenn mir die Frage etwas unhöflich vorkam.

„Natürlich nicht.", antwortete Harlan an Michelles Stelle. „Und das war auch gut so." Kopfschüttelnd seufzte Michelle. „Ich hielt ihn für einen Menschen. Das ging ein paar Monate so. Bis er mich dann irgendwann beiseite nahm und mir erzählte, was er ist.", sagte sie. Nun war es an Lucius, interessiert auszusehen.

„Wie hast du reagiert?", wollte er wissen.

Mit einem Mal wirkte Michelle traurig. „Wie wohl? Ich war alles andere als begeistert und handelte dementsprechend." Weiter wollte sie darauf nicht eingehen und auch Harlan sah nicht so aus, als wollte er dem etwas hinzufügen. Allerdings war ja alles gut ausgegangen. Sonst würden die beiden jetzt nicht als eine Familie vor mir stehen.

„Und Sophia und Felix?", fragte ich vorsichtig. „Sind sie ...?"

Harlan nickte. „Ja, sie sind von Michelle und mir. Halbmutanten, wenn du so willst. Aber inwiefern sich meine Mutation auf die beiden auswirkt, kann ich dir beim besten Willen noch nicht sagen. Wir wissen beide auch nicht, wie sie sich entwickeln werden." In seiner Stimme schwang Besorgnis mit. Diese schien zumindest Sophia nicht mit ihm zu teilen. „Schau mal!", sagte sie und zeigte mir stolz ihre Zähne. Wie bei ihrem Vater waren sie kaum merklich spitzer als bei Menschen.

„Was führt euch eigentlich hierher?", fragte Michelle meinen Bruder und mich.

„Wir sind nur auf der Durchreise.", sagte er knapp. Zu viel wollte er nicht preisgeben.

„Das sind wohl alle, die hier vorbeikommen.", bemerkte Harlan trocken. Empört gab Michelle ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.

„Hey, sei freundlich!", rief sie. Harlan verdrehte die Augen. Jedoch zuckten seine Mundwinkel kurz. Sie wandte sich wieder uns zu. „Wir haben euch lange genug aufgehalten. Es wäre besser, wenn wir alle wohl von hier verschwinden." Ich konnte ihr nur zustimmen. Wir verabschiedeten uns voneinander und Harlan und Michelle gingen mit ihren Kindern auf einen roten Wagen zu. Lucius marschierte zu unserem schäbigen Auto. Ich jedoch blieb, wo ich war und blickte zu dem Fledermausmutanten, der mich noch immer eingehend betrachtete.

„Wer bist du?", fragte ich, bevor ich mich bremsen konnte. Erst glaubte ich, er würde nicht antworten. Doch dann tat er es. 

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt