Kapitel 35

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Kapitel 35

Sie waren immer zu Hause. Sie arbeiteten nicht mehr, da sie erstens genug in ihrem damaligen Job verdient hatten und zweitens hatten sie beide gut geerbt. Wie hatten die Jäger es bloß geschafft bei den beiden unbemerkt rein zu kommen?

Liam und ich setzten uns beide auf den Fußboden und schwiegen. Das würden wir niemals hinbekommen. Wenn wir Glück hatten, erledigte Brenda für uns die Sache mit den Einstellungen, aber nebenan einbrechen? Das mussten wir schon selbst tun. Doch wie sollten wir das anstellen? Würden wir erwischt werden ... Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was dann geschehen würde. Mr und Mrs Severo waren selbst unter Menschen unbeliebt.

„Freya, irgendwie wird das schon.", sagte Liam leise. „Wir schaffen das." Ich schwieg. Nein. Nein, das würden wir nicht. Wir kamen gar nicht erst in die Nähe ihrer Villa, da Mr und Mrs Severo niemals ihr Gebäude verließen. Sie besuchten niemals irgendwen. Laut Audra, nicht einmal ihre Kinder, da diese froh waren, nicht mehr zu Hause zu wohnen. Die beiden fuhren nicht einmal Einkaufen, da sie dafür Jugendliche hatten, die ihr Taschengeld aufbessern wollten.

Vermutlich saßen sie den ganzen Tag über auf dem Sofa im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Und genau in diesem Raum befand sich das Gerät.

„Mach dir nicht so viele Gedanken, Schneeflocke.", riss mich Liam aus meinen Gedanken und grinste mich an. „Brenda hat gesagt, dass sie heute Nacht im Lager den Code eingeben und die Einstellungen ändern wird."

Ich sah auf. „Heißt das ...-"

„- dass wir morgen schon einbrechen können?", unterbrach Liam mich und grinste breit. „Ja. Genau das heißt es."

Ich rappelte mich auf und schüttelte meinen Kopf. „Wie sollen wir das denn anstellen?", fragte ich, doch ich beantwortete meine eigene Frage kurz darauf: „Wir müssen sie irgendwie aus dem Wohnzimmer locken. Denn wir können es vollkommen vergessen, Mr und Mrs Severo aus ihrem Haus zu bekommen."

Liam stand nun ebenfalls auf. Noch immer trug er sein Grinsen auf seinen Lippen. „Wenn wir schon Mutanten sind, sollten wir das auch ausnutzen."

Ich nickte. Niemand war leiser als wir. Niemand war geschickter als wir. Niemand würde uns erwischen. Das einzige Problem würde der Mutant der Severos sein. Wir hatten keine Ahnung, was für eine Art Mutant er oder sie war. Wir wussten nicht, ob er uns verraten würde oder nicht. Wir wussten ja nicht einmal, ob er uns bemerken würde. Irgendwie würde es schon klappen. Wir mussten bloß rein, die Severos aus ihrem Wohnzimmer locken, suchen, deaktivieren und schnell wieder raus. Es würde schon machbar sein. Liam und ich arbeiteten als Team.

„Brenda stellt dich doch tatsächlich über die Jäger.", stellte ich überrascht fest. Natürlich wusste ich, wie toll sie Liam fand und ich wusste, dass sie so vollkommen blind war, was ihn anging. Doch ich hatte tatsächlich nicht geglaubt, dass sie für ihn die Jäger hintergehen würde. Hatte ich mich vielleicht geirrt und wenn sie herausfinden würde, wer Liam ist, würde sie das möglicher Weise nicht ganz so übel aufnehmen und nicht versuchen, ihn zu töten? Nein. Nein, was dachte ich denn da? Natürlich würde sie das! Sie war eine Jägerin. Und das sagte schon alles.

„Ja.", sagte Liam nachdenklich. „Es scheint so." Danach sagte er nichts mehr und schwieg. Eine Weile saßen wir so dar und redeten kein Wort miteinander, versanken in unseren eigenen Gedanken, bis sich Liam plötzlich erhob. Fragend sah ich zu ihm auf, doch er winkte nur ab. „Ich gehe mich umziehen." Er deutete an sich runter.

„Ja, mach das.", sagte ich bloß und stellte verwundert fest, dass mir überhaupt nicht aufgefallen war, dass er noch immer Aldrics Klamotten an hatte. Liam verschwand durch die Tür und ließ mich allein. Meine Augen suchten das Thermometer, das an der Wand befestigt worden war. Auf dem Display leuchtete eine blaue Zahl auf, vor der ein Minus stand. Ich seufzte. Na super. Es war nichts Sonderbares, wenn in meinem Zimmer vor der Zahl ein Minus stand. Doch diese Zahl befand sich am Abgrund. Natürlich würde ich morgen mit Liam mitgehen. Darüber würde ich nicht diskutieren. Doch dass mir die Kälte überall hin merklich folgte würde zum Problem werden können. Da konnte ich noch so leise sein. Den Severos würden die plötzlich aufkommende Kälte nicht unbemerkt bleiben. Ich konnte nur hoffen, dass sie denken würden, dass ihre Klimaanlage kaputt sei. Und selbst das war unwahrscheinlich. Doch würde Liam alleine gehen, wäre es viel gefährlicher. Niemand könnte ihm Rückendeckung geben. Ich schüttelte meinen Kopf, um meine Gedanken loszuwerden. Für Außenstehende mochte das jetzt vielleicht ein wenig merkwürdig wirken. Doch das war mir relativ egal. Hier im Haus befanden sich sowieso nur Leute, die mich kannten und die sich über mein Verhalten nicht mehr weiter wunderten. Ironischer Weise hatte ich genau das als Kind gewollt. Dass man mich akzeptierte wie ich war. Egal welche Macken ich hatte, egal wie merkwürdig ich schon damals gewesen war. Ich hatte es gesehen, wie die anderen Kinder mich angeschaut hatten. Ich wusste, was sie über mich gesagt hatten, soweit ich aus ihrer Hörweite gewesen war. Ich wusste, was sie über mich dachten und dass sie mich lieber gemieden hatten. Doch jetzt ... Jetzt war ich um einiges merkwürdiger als damals. Und damals hatte ich die Menschen übersehen, die mich so gemocht hatten, wie ich war. Es war für mich selbstverständlich gewesen, dass sie bei mir waren und mich mochten. Heute sah ich die Dinge klarer. Ich sah sie aus einer anderen Perspektive. Ich sollte glücklich sein, dass ich auch heute noch Leute hatte, die mich und meine Art mochten. Doch war ich das? Nein. Mir fehlte etwas. Etwas, das ich damals gehabt hatte. Und ich sprach nicht nur von meiner nicht mehr vorhandenen Freiheit.

Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich aufgestanden und zum Fenster gegangen war. Ich blickte auf die Straße vor dem Grundstück. Der Wald hinter den gegenüberliegenden Villen erschien von hier aus wie ein Blättermeer. Kein Wunder, dass die Jäger ihren Schutz in den Wäldern suchten. Die Bäume verbargen sie vor den Blicken der anderen. Sie konnten dort tun, was auch immer sie wollten. Niemand würde ihre Anwesenheit bemerken.

Plötzlich bemerkte ich einen Schatten am Rande des Waldes, genau zwischen zwei der Villen. Ein großer Schatten, der sofort zurück in den schützenden Wald wich, noch ehe ich ihn genauer erkennen konnte. Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. Ein Jäger. Doch es war nicht Brenda gewesen. Nein, Brenda war kleiner und hatte ganz andere Statur, als es die Gestalt gehabt hatte. Ich versuchte die Person hinter den Bäumen auszumachen, doch sie war bereits verschwunden. Ich wusste nicht, wie lange er da schon gestanden hatte. Doch eines wusste ich mit vollkommener Sicherheit: Er hatte unser Haus beobachtet.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now