Kapitel 95.3

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Zittrig schwebte mein Zeigefinger über der Klingel. Jetzt hieß es alles oder nichts. Entweder sie waren da oder sie waren es nicht. Das konnte ich nur herausfinden, indem ich klingelte. Einmal kurz schellte es. Abgesehen vom Rauschen des Meeres und Wehen des Windes war das das einzige Geräusch weit und breit. Plötzlich kam Bewegung in die alten Mauern. Ich vernahm das leise und hektische Geräusch von mehreren Paar Füßen, die über knarzende Dielen huschten. Ein Fluchen ertönte.

Innerhalb des Hauses wurde sich schnell organisiert. Und das war der Augenblick, in dem ich mir beinahe sicher war, dass sich die andere Hälfte unserer Gruppe tatsächlich dort drin befand. Schnelle und entschlossene Schritte kamen zur Tür. Die restlichen Personen innerhalb des Gebäudes verhielten sich nun still. Mucksmäuschenstill. Mein Klingeln hatte sie nicht nur überrascht, sondern auch in Alarmbereitschaft versetzt.

Langsam und vorsichtig wurde die Haustür geöffnet. Mit einem leisen Knarzen wurde mir der Blick auf einen dunklen Flur eröffnet. Die Person, die im Türrahmen stand, hielt die Tür noch immer halb verschlossen. Außerdem stellte sie sich genau in den geöffneten Bereich der Tür, sodass niemand einfach hinein gelangen konnte, ohne sie nicht vorher zur Seite zu stoßen. Vor mir stand Audra Harris. Sie sah erschreckend anders aus, als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte. Ihr eigentlich glänzendes und liebevoll gepflegtes rotes Haar hing matt und kraftlos herunter. Ihr Gesicht wirkte bleich und unter ihren sonst strahlend blauen Augen lagen tiefe Schatten, die vomSchlafmangel zeugten. Audra Harris sah vollkommen fertig aus. Ihr ganzer Körper erschien kraftlos und ein wenig in sich zusammengesunken. Sie glich mehr einem Zombie als der vor Leben sprühenden Audra. Der wunderschönen Frau, die so viele Leute aus dem Fernsehen kannten. So energielos hatte sie noch nicht einmal gewirkt, als wir sie aus dem Gefängnis befreit hatten.

Es entsetzte mich, sie so zu sehen. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?", sagte Audra ruppig. Auch ihre Stimme klang ganz kraftlos und ernst. „Haben Sie mal auf die Uhr gesehen? Verschwinden Sie! Sofort!" In Audras leblosen Augen funkelte etwas, das mich leicht beunruhigte. Das war nicht mehr die lebensfrohe, überaus positive Frau, die ich kannte. Es war erschreckend.

Wie viel Zeit war vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte? Monate? Oder bloß Tage? Ich konnte es tatsächlich nicht sagen. Mir jedenfalls kam es wie eine Ewigkeit vor. Und diese kleine Ewigkeit hatte es in sich.

„Verschwinden Sie sofort!", zischte Audra und ich konnte ihr ansehen, wie sie sich anspannte. Aber verwunderlich war es nicht. Immerhin stand ich hier vollständig vermummt vor ihr und es war mitten in der Nacht. Zumindest vermutete ich das.

„Hallo Audra.", brachte ich es leise zustande. Meine Stimme klang seltsam belegt. „Ich bin's." Einen Augenblick kniff Audra leicht die Augen zusammen und sie sah so aus, als würde sie mir auf der Stelle die Tür vor der Nase zuschlagen, doch dann hielt sie inne. Es brauchte einen Moment, ehe sich ihre ernste und müde Miene ein bisschen erhellte.

„Freya?", fragte sie ungläubig, wobei ihr eine große Last von den Schultern zu fallen schien. Fassungslos schlug sie sich die Hände vor den Mund, ihre Augen füllten sich mit Tränen, ehe sie auf keuchte und mich heftig in ihre Arme riss. Überrumpelt hing ich in ihrer stürmischen Umarmung. Ein Zittern ging durch Audras Körper und sie weinte hemmungslos. Halt suchend klammerte sie sich an mich, wobei sich ihre Finger achtlos in meine Haut bohren wollten, was glücklicher Weise nicht funktionierte.

Etwas unbeholfen legte ich meine Arme um sie und presste mein Gesicht in ihr schlaffes Haar. Ohne groß weitere Worte zu verschwenden, weinte Audra all ihre Gefühle heraus. Wobei sie nicht daran dachte, mich auch nur irgendwann je wieder loszulassen. Es war, als wäre in Audra ein Damm gebrochen. Und alles, was der bisher zurückgehalten hatte, strömte nun ohne Hindernis heraus.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now