Kapitel 13

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Kapitel 13

Liam schien fassungslos. „Aber ... Wie?" Er starrte mich an. „Du lebst?!"

„Ja? Wieso sollte ich nicht leben?"

Fassungslos sah er mich an, fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar. „Du wurdest damals von allen weggebracht! Ich dachte, sie hätten dich getötet!"

Nun schwieg ich. Ich hätte mir denken können, dass er das gedacht hatte. „Ich lebe.", war nur meine Antwort.

„Das sehe ich." Liam stieg über die kleine Hecke, kam auf mich zu und schloss mich fest in seine Arme. Etwas überrascht erwiderte ich seine Umarmung. Irgendwie tat es gut, jemanden zu sehen, den man kannte. Seine Haut war im Gegensatz zu meiner Eiskalten richtig heiß. Doch weder machte ihm meine Kälte aus, noch machte mir seine Hitze aus.

„Wo warst du die ganze Zeit?", nuschelte Liam in mein Haar.

„Ich war in den Kellerräumen eingesperrt.", antwortete ich. Liam murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte.

Schließlich lösten wir uns aus der Umarmung, musterten den jeweils anderen. „Du bist alt geworden."

Er lachte daraufhin nur. „Du auch."

Nun musste auch ich grinsen. Es tat gut. Es war gut, dass er nebenan wohnte. Dass ich das noch nicht vorher bemerkt hatte ... Ich hätte es doch in den letzten Wochen bemerken müssen, oder? Schließlich war ich seit Wochen hier und war auch draußen gewesen. Natürlich nur um die Pflanzen zu schneiden, zu gießen und für andere Hausarbeiten.

Wir ließen uns auf den Boden fallen. „Wie sind die Menschen zu dir?", fragte ich ihn und schlagartig verdüsterte sich Liams Gesicht. Ich glaubte, dass ich die Antwort auf diese Frage schon kennen würde.

„Sie behandeln mich, als sei ich Abschaum, drohen ständig damit, mich in die Armee zu schicken, zu den anderen, wie sie es sagen 'Abschaum'." Ich konnte sehen, wie wütend er war. „Es ist ja nicht so, dass ich damals auch ein Mensch gewesen bin, genau wie sie.", sagte er sarkastisch und schüttelte bitter seinen Kopf. „Ich weiß nicht, wie meine Familie reagieren würde, würde ich plötzlich vor ihrer Haustür stehen." Er klang so bitter und hoffnungslos, dass es schon wehtat. Aber ich konnte ihn verstehen. Ich selbst dachte nicht anders.

„Und bei dir?" Liam sah zu mir.

Ich seufzte. „Ich wollte seit vier Jahren nichts anderes, als zurück zu meiner Familie. Doch ich kann es nicht. Es geht nicht." Liam schwieg daraufhin. Er wusste, wie ich das meinte.

„Wusstest du? Ambrosia ist in der Nähe unserer Familien und wartet nur darauf, dass wir zurückkehren.", sagte er.

Ich nickte. „Aber da werden sie lange warten müssen."

Liam nickte. Lange sahen wir beide in den wolkenverhangenen Himmel. Ein Schwarm von Raben flog krächzend über uns hinweg.

Plötzlich vernahmen wir das Geräusch eines Motors.

„Sie kommen wieder.", bemerkte Liam trocken und stand auf. Ich tat es ihm gleich. Noch einmal umarmte er mich, ehe er unbemerkt wieder im Nachbarhaus verschwand. Der glänzende neue Sportwagen fuhr die Auffahrt hoch und parkte. Schnell tat ich so, als würde ich noch arbeiten. Die Fahrertür wurde geöffnet und ein großer Mann im Anzug stieg aus. Nun öffnete sich auch die Beifahrertür und eine blonde Frau im Kleid stieg aus. Der Mann lächelte sie an und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie kicherte leise. Beide waren jünger als Aldric und Audra.

Sie lösten sich voneinander und die Miene des Mannes blickte streng in Richtung des Hauses. „45!", rief er. „Putz das Auto! Ich will, dass ich mich darin spiegeln kann!" Liam kam mit einer nicht deutbaren Miene aus dem Haus. Das Auto war so neu, dass es unmöglich jetzt schon gewaschen werden musste. Zudem konnte man sich tatsächlich schon darin spiegeln.

„Jetzt mach dich an die Arbeit!", befahl der Mann, warf Liam noch einen abschätzenden Blick zu und führte seine Frau in das Haus. Nun, da die beiden weg waren, funkelten in Liams rot glühenden Augen die Wut.

„Immer das gleiche!", fluchte er vor sich hin. „Sind die denn nie zufrieden?!" Ich wollte ihn gerade beruhigen, doch er bedeutete mir still zu sein. „Bitte. Sag jetzt einfach nichts." Ich zuckte nur mit den Schultern und verschwand im Haus. Immerhin musste ich noch das Essen für Aldric und Audra kochen, wenn sie heute Abend wiederkommen würden. Und natürlich musste ich so lange aufbleiben, bis sie endlich da waren, damit ich es ihnen auch wieder warm machen konnte. Manchmal kamen sie ganz schön spät zurück. Es war ätzend. Einfach nur ätzend. Würde es Aldric nicht geben, würde Audra mich die ganze Zeit über wie ihr eigenes Kind behandeln, es sei denn, sie hätte Besuch. Es wurde nicht gerne gesehen, wenn man mit Mutanten so umging, wie mit Menschen.

Es machte mich jedes mal wütend, doch ich durfte meine Wut weder herauslassen, noch in irgendeiner Art und Weise zeigen. Und so fraß ich alles in mich hinein, bis ich irgendwann wie eine tickende Zeitbombe hochgehen und alles in meiner Umgebung mit ins Chaos stürzen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Ob es in ein paar Wochen, oder erst in ein paar Jahren war, konnte ich nicht sagen. Es lag allein an meiner Selbstbeherrschung.

Es war bereits Abends, ich hatte das Radio angeschaltet und lautstark aufgedreht. Eigentlich durfte ich das nicht, aber es war ja niemand da. Sie würden sowieso erst wie immer spät nach Mitternacht zurück kommen. Der Bass wummerte durch die Villa und erklang in jedem Zentimeter des Gebäudes. Die Melodie wurde schneller, ich schlitterte über das Laminat. Der Boden unter meinen Füßen war rutschig, da er immer noch nicht vollkommen getrocknet war. Und für den Moment war alles vergessen. Alle Sorgen, alle Ängst, ja mir war sogar egal, dass die Nachbarn die Musik hören konnten. Laut klang die Rockmusik durch das Haus und war vermutlich sogar noch draußen zu hören. Ich hüpfte mit dem Besen durch das Haus, drehte mich und musste lachen. Irgendwie hatte es mir gefehlt, mal wieder etwas lustiges zu tun, auch wenn ich schon als kleines Kind recht ernst gewesen war.

„DREIUNDNEUNZIG!!"

Ruckartig blieb ich stehen und drehte mich um. Vor mir stand ein wutentbrannter Aldric. Neben ihm stand Audra, die ziemlich besorgt zu mir sah.

„WIE KANNST DU ES WAGEN ...!" Er kam auf mich zu. „IN MEINEM HAUS ...!"

Hastig kam Audra auf ihn zu, legte ihm ihre Hand zur Beruhigung auf die Schulter. „Aldric, bitte! Sie ist doch noch ein Kind!"

Wütend schüttelte er ihre Hand von seiner Schulter.

„Aldric!", rief Audra. „Sie ist ein Kind!"

Doch er schüttelte nur den Kopf. „Sie ist kein Kind, Audra!" Er sah mich an. „Sie ist ein Monster. Und Monster verdienen es gehasst zu werden."

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now