Kapitel 79.2

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„Anscheinend doch.", erwiderte Doktor Clausen. „Würdest du diese Fähigkeit besitzen, könnten ich dich überzeugen, dass ich dir nichts Böses will, meine Liebe." Kopfschüttelnd betrachtete Clausen mich, wobei seine Augen interessiert an meinen Eckzähnen hingen blieben. Noch einmal sah er mich bedauernd an, ehe er mich mit Varya allein ließ.

Varya ließ sich auf den Stuhl sinken und zog eine Zeitung aus der Tasche ihres Kittels. Sofort sprangen mir die Schlagzeilen ins Auge: Tote bei Mutantenattentat.

Darunter prangte ein großes Bild von einer zerstörten Straße, auf der viele Trümmerteile zu sehen waren, wie auch einige Kranken- und Polizeiwagen. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. So viel dazu, dass ich – sollte ich jemals hier rauskommen – die Mutanten befreien wollte. Selbst, wenn ich das schaffen sollte, würde es für uns nicht einfach sein, da die öffentliche Meinung alles andere als gut auf uns zu sprechen war. Diese Schlagzeile wachte es nicht gerade besser. Im Gegenteil.

Waren die Mutanten, die involviert waren, vielleicht die, die ich bereits einmal gesehen hatte, als sie meinen Bruder und seine Jäger angegriffen hatten? Oder waren das andere? Immerhin war es möglich, dass es nicht nur eine Gruppe von Mutanten gab, die sich entschieden hatte, sich gegen die Menschen aufzulehnen. Allerdings könnte es sich hierbei auch um einen misshandelten Mutanten aus einem menschlichen Haushalt handeln, der nun allemal genug von der schlechten Behandlung hatte.

„Könnte ich die Zeitung kurz haben?", fragte ich. Varya sah auf. Obwohl sie mich ansah, hatte ich das Gefühl, dass sie mich gar nicht wirklich wahrnahm. Kurz darauf senkte sie ihren Blick wieder und las weiter. Ich trat näher an das Glas. „Hey. Ich habe dich etwas gefragt.", sagte ich ungeduldig. „Ich will doch nur kurz den Artikel lesen, das dauert nicht einmal eine Minute!" Varya reagierte nur, in dem sie eine Augenbraue kaum merklich anhob. Aber immerhin war das eine Reaktion. „Bitte.", fügte ich hinzu. Immerhin musste ich wissen, was los war. Schließlich könnten genauso gut Liam und Kieran in diesem „Mutantenattentat" involviert sein. Varya beachtete mich nicht. Frust zog sich langsam an mir herauf. Stück für Stück nahm er mich ein. Was, wenn es sich wirklich um Liam und Kieran handelte und sie irgendetwas Dummes angestellt hatten? Zwar war Kieran der, der einen kühlen Kopf bewahrte und nachdachte, ob etwas es wirklich Wert war, bevor er handelte, doch Liam war ein impulsiver Hitzkopf. Außerdem war es gut möglich, dass Liam Kieran überzeugen konnte, wenn nur genug Gewalt in ihrem Vorhaben vorkam. Schließlich war Kieran eine Tötungsmaschine, soweit ich das beurteilen konnte. Zwar hatte er gesagt, dass er aus dem Modus der Gewissenlosigkeit raus war, doch irgendetwas davon war hängen geblieben. Oder Kieran war einfach schon immer so.

Mit meiner zur Faust geballten Hand schlug ich gegen die Scheibe, die mich von Varya trennte. „Gib mir nur eine Minute, dann gebe ich dir deine Zeitung zurück!", rief ich. „Mehr will ich doch gar nicht!" Ich musste nur wissen, ob Liam und Kieran in Schwierigkeiten steckten. Und selbst, wenn ich es wüsste: Was würde ich machen? Gar nichts. Ich würde wissen, dass die beiden Hilfe bräuchten und würde nur tatenlos hier herum sitzen, weil ich nicht herauskam. Wut wurde in meinem Inneren wie ein Feuer entflammt. Sollte den beiden wirklich etwas passiert sein, könnte ich nur deshalb nicht helfen, weil Clausen mich hier festhielt und Lucius nicht einmal daran dachte, mir zu helfen! Doch auch die Ungewissheit ertrug ich nicht. Eine Veränderung ging durch meine Augen, während ich meine Faust verkrampft gegen die Scheibe drückte. „Gib mir verdammt noch mal die Zeitung!", zischte ich. Meine Stimme, mein Auftreten, alles war von lodernder Wut gesäumt. „Alles, was ich möchte, ist zu wissen, ob es meinen Freunden gut geht, oder nicht! Ich bin hier eingesperrt: Was sollte ich schon groß tun?"

Tatsächlich schaffte ich es, dass Varya aufschaute. Erneut sah sie mich einfach nur an. Dieses mal länger. Während sie das tat, begann sie auf einmal, ihre Zeitung zusammenzufalten. Plötzlich stand Varya auf und ging wirklich auf mich zu. Überrascht, da ich das nun echt nicht erwartet hatte, trat ich einen Schritt zurück. Varya öffnete für einen kurzen Moment für eine Handbreite meine Zelle. Dort schob sie mir die Zeitung rein, ehe sie meine Zelle wieder verschloss. Sie setzte sich gar nicht erst wieder hin, sondern musterte mich abwartend. Schnell griff ich nach der Zeitung, suchte die Schlagzeileund begann den Artikel zu überfliegen:

London. Gestern Nachmittag überquerte eine Gruppe von Mutationen für alle sichtbar die Westminster Bridge. Unter den Mutationen befanden sich die national gesuchten Mutationen 47, 105, 166 und 219, wie die Polizei berichtete. Die Gruppe sorgte für Aufruhr und provozierte Angriffe, indem die Mutation 166 vor allen anwesenden Menschen eine ketzerische Rede hielt. In dieser ging es vor allem um die Rechte der Mutationen als anerkannte Lebensform, wie auch die Freiheit und Gleichberechtigung. Als ein Augenzeuge eingriff, um die Mutationen aufzuhalten, kam es zu Auseinandersetzungen, denen die Mutationen mithilfe ihrer Fähigkeiten entgegentraten. Als die Polizei eintraf, kam es zur Schießerei. Die Mutationen reagierten gewalttätig. Es starben vier Polizisten und zwei Zivilisten. Die Polizei warnt die Bevölkerung vor der Gefahr, die von den Mutationen ausgeht und bittet, jede im Haushalt lebenden Mutation registrieren und kontrollieren zu lassen. Bei Auffälligkeiten werden diese unverzüglich ausgesondert, um die Gefahr von Gewalttätigkeit sominimal wie möglich zu halten.

Fassungslos starrte ich auf den Artikel. Nur weil die Mutanten Rechte für sich verlangt hatten, wurde ihre Rede „ketzerisch" genannt? Es ist doch kaum etwas gewesen und dennoch sind Menschen eingeschritten? Hier wurde nur deutlich, wie die Meinung der Menschen über uns war und dass die die Augen vor denen verschlossen, die anders waren und diese nicht einmal als richtige Lebewesen ansahen. Das war doch alles unfassbar! Es wurde nicht einmal erwähnt, wie viele Mutanten die Polizisten getötet hatten und wie viele Menschen nun wirklich wegender Mutanten gestorben waren! Und weil sich Mutanten nun für ihre Rechte einsetzten, wollten die Menschen nun die Kontrolle über alle Mutanten erlangen und die töten, die in ihren Augen eine Gefahr darstellten. Wie viele Tote würde es geben?

Das Öffnen meiner Zelle riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich aufsehen. Varya hatte die Zelle einen Spalt breit geöffnet und erwartete ihre Zeitung zurück. Stumm überreichte ich sie ihr. Kaum hatte Varya ihre Zeitung zurück, wurde auch schon die Zelle geschlossen und sie ging zurück zu ihren Stuhl, auf dem sie sich wie zuvor niederließ.

„Danke.", sagte ich, doch Varya reagierte nicht. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie mich überhaupt gehört hatte. Aber es wunderte mich nicht.

Drei wichtige Dinge hatte ich nun erfahren: Liam und Kieran steckten nicht in Schwierigkeiten. Zumindest so weit ich wusste. Außerdem begannen Mutanten nun zu den Menschen zu sprechen und sie nicht mehr einfach nur wortlos zu bekämpfen. Das war ein guter Fortschritt. Zusätzlich zeigte es, dass sie nun endlich den Mut aufbrachten, ernsthaft etwas ändern zu wollen. Doch die Menschen mussten lernen, zu zuhören und über das Gehörte nachzudenken, ihre Perspektive zu wechseln.

Außerdem hatte sich gezeigt, dass Varya nicht bloß die willenlose Marionette von Doktor Clausen war. Sie konnte noch immer eigenständige Handlungen durchführen und sie hatte sich – wenn auch etwas widerwillig – auf meine Bitte eingelassen. Varya Melnikova war erreichbar. Das gab mir Hoffnung, dass sie sich irgendwann vielleicht auch auf andere Aktionen einlassen würde. Bis dahin musste ich nur herausfinden, wie ich am besten zu ihr durchdringen konnte.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now