Kapitel 101

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Die Fahrt zog sich in die Unendlichkeit und zwang mich, mich mit meinen Gedanken und Gefühlen auseinanderzusetzen. Obwohl ich mich angestrengt bemühte, meinen Blick stets auf die Zukunft, die uns womöglich in London erwartete, zu richten, schlichen sich die Erinnerungen an Liams letzte Sekunden hartnäckig immer wieder in den Vordergrund. Sein Gesicht. Die Verblüffung und schließlich das Entsetzen, als er begriff. Wie er auf die Knie sank, als die Kraft ihn gemeinsam mit seinem rubinroten Lebenselixier verließ.

Bei dieser Erinnerungen zog sich alles schmerzhaft in mir zusammen, raubte mir gewaltsam den Atem. Ich wollte nicht daran denken. Doch ich musste. Ich konnte nicht anders. Vor meinem inneren Auge spielte sich das alles in Endlosschleife ab. Fünfundachtzig, die meinem besten Freund den tödlichen Schnitt zufügte, wie er mich ansah und schließlich fiel. Doch noch häufiger als seine letzten Sekunden, sah ich seinen reglosen, toten Körper vor mir. Ein Anblick, der so unwirklich wie grausam war. Und ich wünschte mir, dass irgendwer etwas sagen würde. Irgendetwas. Hauptsache, ich konnte mich auf etwas anderes konzentrieren, außer mir selbst.

Aber niemand sprach. Die Fahrt war lang und Steves Fahrzeug fuhr quälend langsam. Auch Kieran schwieg. Jedoch war das keine sonderlich große Überraschung. Die meiste Zeit über überließ er die Unterhaltungen den anderen.Aber auch Audra schwieg. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Schatten des Abgrundes. Genau wie ich wurde sie mit ihren Gedanken allein gelassen und blickte kraftlos aus dem Fenster. Erneut war in ihren Augen diese Leere zu finden, die mich erschreckte.

Am liebsten wollte ich sie aus ihrem Tief ziehen, doch wie konnte ich das, wenn ich selbst darin gefangen war? Es würde eine lange, unangenehme Autofahrt werden.

Steve befand sich in seinen Gedanken ganz sicher bei seiner Tochter und den Flugblättern. Und woran Kieran dachte, konnte ich wie so oft nicht sagen. Nach wie vor war er ein verschlossenes Buch und er hatte mir nur einen geringen Einblick in sein Innerstes erlaubt.

Noch immer fragte ich mich, was es mit ihm und Zweihunderteins sowie den anderen Elitesoldaten auf sich hatte. Aber lieber widmete ich mich diesem Rätsel, als hilflos in mir selbst zu versinken.

Ganz bestimmt hätte Kieran ein Elitesoldat werden sollen. Zumindest deutete das, was ich von ihm wusste und wie er nach Zweihunderteins gefragt hatte, darauf hin. Nur wusste ich nicht, ob ich ihn tatsächlich danach fragen sollte. Natürlich konnte ich auch warten und hoffen, dass er es eines Tages von sich aus erzählte. Und eigentlich ging es mich auch gar nichts an. Das alles gehörte zu Kierans verborgener Vergangenheit und ich wollte nicht unwissentlich alte Wunden aufreißen.

Und wenn, dann würde ich schon gar nicht jetzt fragen. Nicht, wenn wir nicht alleine waren. Schließlich konnte ich nicht sagen, ob er überhaupt wollte, dass andere davon wussten. Immerhin hatte er auch nur mir von den Experimenten erzählt, die an ihm durchgeführt wurden und was sie mit ihm gemacht hatten.

Steve tuckerte fröhlich über die Autobahn, immer schön auf der linken Spur, während andere Autos nur so an uns vorbei rauschten. Doch er schien sich an seinem geringen Tempo nicht zu stören. Leise summte er ein Lied mit, das gerade aus den alten Boxen des alten Fahrzeuges schallte.

Als das Lied endete, sprach eine männliche Stimme die Nachrichten ein. Erst hörte ich gar nicht zu. Bis ich auf einmal hellhörig wurde. Kaum merklich lehnte ich mich vor. »Seit wenigen Tagen machten Meldungen über mutantenfreundliche Propaganda im Internet die Runde.«, sagte der Radiomoderator. »Laut dieser solle es sich bei den Mutanten ursprünglich um Menschen gehandelt haben und es wird die Gleichstellung von Mensch und Mutant gefordert. Aufgrund des plötzlichen Auftauchens dieser Bilder im Netz hat unsere Regierung sich an eine der ehemals führenden Wissenschaftlerinnen von Ambrosia gewandt, die mittlerweile für ihre Taten – unter anderem wegen illegaler Forschung und Experimente – ihre Haftstrafe absitzt.« Der Radiosprecher verstummte und stattdessen erklang eine erschreckend bekannte Stimme.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now