Kapitel 25

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Kapitel 25

Der Tag an dem ich vollkommen meine Beherrschung verlieren würde, würde der Tag sein, an dem ich keine andere Wahl mehr haben würde. Doch vorher würde ich nichts dergleichen tun.

Plötzlich bemerkte ich, wie sich etwas warmes auf meine Schulter legte. Erschrocken fuhr ich aus meinen Gedanken hoch und blickte in das besorgte Gesicht von Liam. Seine glühenden Rubinaugen sahen mich voller Sorge an. „Hey, alles in Ordnung mit dir?"

Ich lächelte abwesend. „Ja. Es ist nichts." Plötzlich schlich sich in meine Gedanken ein Name. Und ein Gesicht. Dann wieder; ein weiterer Name und ein weiteres Gesicht. Immer mehr und mehr. Ich schloss entkräftet meine Augen und ließ meinen Kopf gegen die Wand sinken. So viele Jahre waren vergangen. So viele Jahre und immer noch musste ich an sie alle denken. So viele Jahre und sie gingen mir noch immer nicht aus dem Kopf. Dabei sollte man doch meinen, dass es bereits nicht mehr wichtig sei. Dass ich nicht mehr daran denken müsste. An die Zeit davor. Die Zeit davor kam mir beinahe wie ein anderes Leben vor. Und das war es ja nun auch. Sozusagen lebte die alte Freya Winter nicht einmal mehr. Die Wissenschaftler von Ambrosia hatten das kleine Mädchen getötet und ein stärkeres Mädchen geschaffen. Ein Mädchen, das ein Monster war. Ich weiß, ich sollte nicht so von mit selbst denken. Doch ein kleines bisschen Wahrheit lag da schon drin. Ich war nicht mehr das kleine Mädchen Freya Winter. Doch was war ich dann? Wer war ich? Zu wem hatten mich die Wissenschaftler gemacht? Ich konnte es schwer sagen.

Plötzlich wurde ich angetippt und befand mich wieder in der Realität. Liam saß neben mir und konnte nur lächelnd seinen Kopf schütteln. „Mal ehrlich, Freya. Was ist los? Du wirkst nicht so, als sei alles in Ordnung." Ich war froh ihn zu haben. Er wusste sofort, wenn etwas nicht stimmte. Und Liam war es, der mich am besten verstand. Er konnte mich verstehen. Selbst wenn ich es selbst nicht konnte.

Die Wissenschaftler hatten mich stark gemacht. Aber mit dieser Stärke konnten sie nicht umgehen. Sie sollten eben diese Stärke zu spüren bekommen. Für all das, was sie mir und all den anderen angetan hatten. Es klang nach Rache. Und vielleicht war es das auch. Sie hatten uns das angetan. Mit ihnen hatte alles angefangen und gerne würde ich sagen, dass es auch mit ihnen enden würde. Doch ich konnte nicht in die Zukunft sehen. Irgendwie würde es enden. Irgendwie und irgendwann. Und ich hoffte, es endete positiv für uns.

„Ich war nur in Gedanken.", sagte ich und blickte aus dem Fenster.

„Das habe ich gemerkt." Liam grinste und stand auf. Aldric und Audra waren anscheinend schon mit ihrer Alarmanlage fertig. Oben an der Wand hing eine Lampe, die wohl rot aufblinken würde, würde der Alarm ausgelöst werden.

Eigentlich sollte man meinen, so reiche Leute wie die Harris' sollten bereits im Besitz eines Alarmsystems sein. Aber nein. So etwas hatten sie zuvor nicht als nötig angesehen.

„Ich würde jetzt ja sagen 'Komm, gehen wir ein Stück, dann kannst du es mir erzählen', aber ..." Liam blickte aus dem Fenster und lächelte gequält. „Das geht ja schlecht."

Ich seufzte und betrachtete die Straße im Golden Quarter, die sich hinter dem Fenster erstreckte. Große Villen aneinander gereiht und eine neue, ebene und gesäuberte Straße. Das Grün des Waldes war auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter den Villen zu sehen. „Ich weiß. Es ist schon okay." Mutanten konnten nicht so einfach draußen herum laufen. Wir gehörten entweder in die Häuser unserer Besitzer (so war es leider) oder an die Front. Mutanten, die außerhalb die Straßen entlang spazierten war ebenso gern gesehen wie ein freilaufender Tiger in London.

Außerdem hatten wir nicht so viel Freiraum wie Menschen. Genau genommen hatten wir überhaupt keinen Freiraum.

Ich stand nun ebenso wie Liam auf. „Wir können aber in den Garten gehen.", schlug er vor. Der Garten der Harris' war schon lange kein Garten mehr. Er glich eher einem kleinen Park. Eine große weite Wieso aus strahlendem Grün, helle, graue Fliesen, die ihre Wege durch die Wiese zogen. Blumenbeete in allen Farben des Regenbogens und perfekt geschnittene Hecken. In der Mitte des so genannten Gartens gab es einen Teich, umrandet von einem großen Fliesenkreis mit Pavillon und Bänken. Es war das Einzige, das uns die Chance gabe nach draußen zu gehen, ohne großes Aufsehen zu erregen. Seit Audra und Aldric uns beide hier hatten, hatten sie einen großen, aber schönen Zaun um ihren Garten bauen lassen. Und zwar nur, damit niemand zu uns hinein sehen konnte und uns entdecken konnte, wie wir hier am Teich saßen und nichts taten. Niemand durfte wissen, dass sie uns gut behandelten. Würde man es erfahren, würden wir entweder in den Krieg geschickt oder getötet werden. Und Audra und Aldric würden in irgendeiner Weise bestraft werden. Da die beiden aber Menschen waren, im Gegensatz zu uns, würden sie vermutlich schlimmstenfalls ins Gefängnis kommen, vielleicht für ein oder zwei Jahre. Die Regierung war gnadenlos bei allem, was Mutanten betraf.

Liam und ich liefen durch das große Erdgeschoss und er öffnete die Doppeltür aus Glas, die in den großen Garten führte. Kaum hatte er diese aufgemacht, wehte mir ein lau warmer Wind entgegen und es roch nach frischen Gras. Das leise Gurgeln des Brunnens war nicht zu überhören. Nun ja, für Menschen vielleicht schon. Sonne schien mir ins Gesicht und ich vernahm die Gesänge der Vögel. So stellte ich mir die Freiheit vor. Deshalb kam ich so gerne in den Garten. Es war immer wieder etwas anderes als das Haus von innen zu sehen. Wären doch bloß die Zäune nicht da und wäre da nicht dieses Problem mit den Rechten der Mutanten. Wie fühlte sich die richtige Freiheit an? Damals, als ich noch klein gewesen war? Erschrocken stellte ich fest, dass ich kaum noch Erinnerungen daran hatte. Wie es war, frei zu sein. Doch hatte ich damals jemals darauf geachtet? Es war selbstverständlich für mich gewesen so zu leben. Wahrscheinlich fing man erst an darüber nachzudenken, wenn man etwas nicht mehr hatte.

Doch irgendwann würde ich, würden wir alles, wieder wissen, wie es gewesen war.

Freya Winter - MutantTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon