Kapitel 44

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Kapitel 44

Schmerz machte sich in mir breit, doch nicht wegen der kleinen Schnittwunde an meiner Kehle. Die spürte ich nicht einmal. Ebenso wenig spürte ich das kalte Blut, das über meinen Hals rann. Mein Blut. Mein Herz zog sich zusammen. Schmerz und Trauer schienen mich zu überwältigen. Ich wollte schlucken, doch ein gewaltiger Kloß hatte sich in meinem Hals festgesetzt und erschwerte es mir. Es tat weh. So weh. Ihn hier und jetzt zu sehen. So. Wie er jetzt war. Wie ich jetzt war. Ich wollte tot umkippen. Meine Lippen formten einen Namen. Seinen Namen. Und dann sprach ich ihn aus. „Lucius." Leise kam er mir über die Lippen. Ganz leise. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er verstanden hatte, was ich gesagt hatte, doch anhand seines Gesichtsausdrucks war ich mir sicher, dass er es sehr wohl gehört hatte. Seine Miene veränderte sich. Doch inwiefern konnte ich nicht sagen. Seine Augen verengten sich. Seine grünen Augen, die genauso aussahen, wie meine damals. Sein Haar, das genauso tiefschwarz war, wie meines vor so vielen Jahren. Seine Gesichtszüge, die meinen selbst heute noch ähnlich waren. Es überraschte mich selbst, als ich das bemerkte. Egal wie anders ich mittlerweile aussah. In dieser Hinsicht sahen wir uns immer noch ähnlich. Ich wusste nicht ob ich lachen oder weinen sollte. Damals waren wir gleich groß gewesen. „Woher kennst du meinen Namen, Abschaum?", zischte er mir zu. Er, Lucius, mein Zwillingsbruder. Mein Zwillingsbruder, den ich neun Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Und da nannte er mich „Abschaum". Jetzt wusste ich es. Ich wollte weinen. Weinen wie noch nie zuvor. Ich hatte mir ja vieles vorgestellt. Wie es sein könnte, sollte ich ihn jemals wieder treffen. Doch in keiner meiner Vorstellungen war Lucius ein Jäger gewesen. In keiner. Nicht der liebe, kleine, schüchterne Junge, den ich einst gekannt hatte. Oder glaubte zu kennen.

Lucius musterte mich abschätzend und verzog angewidert seinen Mund. Ich wollte weinen und anschließend sterben. Noch nie war es mir so schlecht ergangen wie in diesem einen Moment. Es war der zweite Junge, der etwas sagte. Der, mit den dunkel braunen Haaren und den klaren, blauen Augen. Er war einen Schritt zurück gewichen, starrte mich aus geweiteten Augen an. Und in diesem Moment begriff ich, dass er James war. James, der damals Lucius' und mein bester Freund gewesen war. „Sie sieht dir ähnlich, Lucius." James' Stimme zitterte, als er das sagte. Und sie war leise. Mir ging es elendig. Es war nicht mein eigener Bruder – Zwillingsbruder - , der mich erkannte. Nein. Es war James. Und das stimmte mich noch trauriger, als ich ohnehin schon war. Und ich hatte nicht gedacht, dass das möglich war. Die drei mit der etwas dunkleren Haut sahen mich erschrocken an. Und mir wurde schlecht, als ich erkannte, dass es Jo, Mikéle und Levi Reyes waren. Selbst sie hatten mich erkannt. Brenda dagegen schien nichts zu verstehen. Ihre Augen huschten von einem Jäger zum anderen und anschließen zu mir und hin und her, doch eine Erkenntnis bekam sie nicht. Wäre ich in einer anderen Situation, würde ich sie auslachen. Doch ich befand mich in keiner anderen Situation. Ich war hier. Und vor mir standen die Menschen aus meiner Vergangenheit. Ich wusste nicht was schlimmer war. Dass die Reyes-Geschwister hier waren, oder mein Bruder. Und sie sahen mich so wie ich heute war. Seit meiner Mutation. Und das hatte ich nicht gewollt. Auf gar keinen Fall. Ich hatte nie gewollt, dass sie mich so sahen. Vor allem nicht meine Familie. Und nun war Lucius hier. Als Jäger. Genau wie mein damaliger bester Freund und meine damaligen „Feinde". Von Jo habe ich ja vieles gedacht. Aber selbst bei ihr hätte ich mir niemals vorstellen können, dass aus ihr eine Jägerin werden würde. Und schon gar nicht hatte ich das von meinem Bruder oder James gedacht. Doch jetzt konnte ich sehen, wie sehr ich mich doch getäuscht hatte. Ich wollte, dass das alles hier bloß ein böser Traum war. Doch das war es nicht. Es war echt. Und es war die Hölle. Meine persönliche Hölle.

Lucius starrte mich an. Langsam entgleisten nun auch ihm die Gesichtszüge. Er hatte sie nicht mehr länger unter Kontrolle. Sie entwichen ihm und ich konnte die Fassungslosigkeit unter seiner nun verschwundenen Maske sehen, als er mich nun schließlich auch erkannte. - Als Letzter.

So viele verschiedene Gefühle spiegelten sich in seine ungewöhnlich grünen Augen wieder. Fassungslosigkeit, Trauer, Schmerz, Entsetzen, Verwirrung und Sehnsucht. Lucius war geschockt. Er brachte wie ich zuvor keinen Ton heraus. Er starrte mich bloß an. Unwillkürlich ließ er sein Messer sinken, das zuvor noch an meiner Kehle gelegen hatte. Und plötzlich bewegten sich seine Lippen. Es war nur ein Hauch. Kaum mehr als ein Flüstern, als er den Namen sagte. Den Namen, der zu mir gehörte. „Freya?" Es war nur eine Frage und trotzdem schossen mir die Tränen in die Augen. Vielleicht war es, weil er meinen Namen nannte. Vielleicht aber auch, weil er sich unsicher war.

Er war sich verdammt noch mal nicht sicher! Oder er wollte es ganz einfach nicht wahr haben. So wie er mich zuvor angesehen hatte ... Das tat schon mächtig weh. Und dann noch seine Worte. „Abschaum." Und nun stellte sich für ihn heraus, dass dieses Wesen, dieses Ding vor ihm seine verschollene Zwillingsschwester war. Ich gab ihm keine Antwort. Weder „ja", noch „nein". Ich war verletzt. Zutiefst verletzt. Die erste Träne rollte mir über die Wange. Und dann noch eine. Und noch eine. Immer mehr. Doch ich sagte keinen Ton. Schluchzte noch nicht einmal. Weinte still. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Tränen. Konnte nicht einmal eine Maske auflegen, die meine Gefühle verbarg. Ich war vollkommen fertig.

„Freya!", ertönte auf einmal der entsetzte und besorgte Ruf von Liam. Ich drehte mich nicht zu ihm um. Ich konnte nicht. Ich war wie festgewachsen und eingefroren. Erstarrt. Ich hörte Liams Schritte und das Klirren von zwei Tellern, die auf dem Boden aufkamen. Er rannte. Doch niemand anderes bewegte sich. Ich wusste nicht weshalb, doch Lucius war merklich zusammengezuckt, als Liam mich bei meinem Namen nannte. Lucius hatte nun die Bestätigung. Ob es ihm gefiel oder nicht. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts.

Eine Hand griff nach mir, zog mich von meinem Bruder fort. Liam zog mich schützend hinter sich. Ihm war mein benommener Zustand nicht entgangen. Doch er sagte dazu nichts. Noch nicht. Doch früher oder später würde er wissen wollen, was hier passiert war. Ich wusste nicht ob ich es überhaupt über meine Lippen bringen könnte. Als Liam mich schützend hinter sich zog, meinte ich für einen Augenblick Schmerz in den Augen meines Bruder aufblitzen zu sehen. Doch so schnell wie es gekommen war, war es auch schon wieder verschwunden. So schnell, dass ich mich auch geirrt haben könnte. Lodernde Wut spiegelte sich in Liam blutrot glühenden Augen wieder. „Was habt ihr mit ihr gemacht?!", polterte er zornig. Seine Stimme triefte nur so vor Wut und Hass. Liam stieß ein Fauchen aus, bei dem mein Bruder, der mittlerweile selbst wie benommen dar stand, zurück zuckte. Ich bemerkte Brenda, deren Augen sich vor Entsetzen geweitet hatten, als sie Liam erblickte. Liam, der Junge, in den sie sich verliebt hatte. Der Junge, der ein Mutant war. Und das realisierte sie nun auch. Tränen funkelten in ihren Augen. Entsetzen zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Und dennoch hatte sie nur Augen für Liam. Erbärmlich. Doch war ich besser? Nein. Ich hatte gehofft. Hoffte vielleicht immer noch. Ich war nicht besser als Brenda. Ich war genauso naiv. Liam, der noch immer mein Handgelenk umschlungen hatte, knurrte noch einmal kurz in die Runde, ehe er sich den Jägern abwandte ( für Brenda hatte er nicht einmal einen Blick übrig gehabt ) und mich mit sich zurück zum Haus zog. Allerdings bemerkte ich noch die Tränen, die meinem Zwillingsbruder nun schweigend über das Gesicht liefen.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt